Aber dann kam Muharrem Ince ins Spiel. Ince hatte bei der Wahl 2018 klar gegen Erdogan verloren und war dann von der Bildfläche verschwunden. Jetzt ist er wieder da und will im zweiten Anlauf Präsident werden.
Sechs sehr unterschiedliche Parteien haben sich für die Wahl am 14. Mai um den Chef der sozialdemokratischen Partei CHP, Kemal Kilicdaroglu, gegen Erdogan zusammengeschlossen. Aber Inces Kandidatur wird ihnen das Leben schwer machen. „Das sind keine guten Nachrichten für die Opposition“, sagt der Politikwissenschaftler Berk Esen von der Sabanci-Universität. Ince könne der CHP und dem kleineren Partner von der Guten Partei Stimmen abspenstig machen.
Ince hatte 2018 selbst für die CHP kandidiert, da die Partei damals meinte, der gemäßigter und zurückhaltend auftretende Kilicdaroglu wäre für die Wähler weniger attraktiv. Inces leidenschaftliche Reden und seine kämpferische Persönlichkeit erinnerten an Erdogans Stil und zogen im Wahlkampf die Massen an.
Seine Anhänger setzten große Hoffnungen in ihn – umso größer war die Enttäuschung nach der klaren Niederlage gegen Erdogan bereits im ersten Durchgang. Und statt den Sieg des ewigen Amtsinhabers öffentlich anzuerkennen, verfiel Ince in Schweigen, tauchte ab und schrieb lediglich eine kurze SMS an einen Journalisten, die besagte: „Der Mann hat gewonnen.“ Der wenig stilvolle Abgang machte Schlagzeilen in der Türkei und sorgte mit dafür, dass Ince an Beliebtheit einbüßte. Später scheiterte er mit dem Versuch, Kilicdaroglu von der Spitze der CHP zu verdrängen.
Ince punktet bei jüngeren Wählern
Inzwischen ist Ince Vorsitzender der neu gegründeten Memleket-Partei (Vaterland). Die Partei spricht vor allem säkulare nationalistische Wähler an – die allerdings auch eine wichtige Basis für Kilicdaroglu sind. Als er bei der Wahlbehörde seine Kandidatur einreichte, strotzte der 58-Jährige vor Selbstvertrauen: „Die Wahl wird in die zweite Runde gehen und in der zweiten Runde werde ich mit mehr als 60 Prozent der Stimmen gewählt werden“, zeigte sich der ehemalige Physik-Professor siegesgewiss.
Der politische Kommentator Serkan Demirtas bemängelt, Ince wolle sich den Wählern als Alternative präsentieren, ohne wirklich klarzumachen, wofür er stehe. „Er sagt, er ist gegen Erdogan, und er ist auch gegen Kilicdaroglu, aber was vertritt er eigentlich? Wir wissen es nicht.“ Die meisten Beobachter in der Türkei teilen derzeit die Ansicht, dass jeder Versuch eines Einzelkämpfers, Erdogan zu besiegen, nicht nur scheitern, sondern auch dem Oppositionsbündnis schaden wird.
Ince punktet derzeit vor allem bei jüngeren Wählern, die des Präsidenten Erdogan müde sind und die auch der 74-jährige Kilicdaroglu nicht inspiriert, der sich selbst die „stille Kraft“ nennt. „Ince scheint besonders beliebt bei Wählern der Generation Z zu sein, die sich sehr schnell von Kandidaten beeinflussen lassen, die gegen den Status quo auftreten“, betont Esen. „Für sie ist Kilicdaroglu kein neues Gesicht.“
Noch versuchen Erdogans im Oppositionsbündnis vereinte Gegenspieler, Ince diskret dazu zu bewegen, sich doch noch aus dem Rennen zurückzuziehen. Emre Peker von der Eurasia Group sagt, entscheidend für Kilicdaroglus Chancen in einem zweiten Wahldurchgang sei die Frage, ob Ince und die CHP „das Kriegsbeil begraben“. (AFP)
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