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Alain spannt den Bogen„Was da passiert, kann man nicht wirklich erklären“: Im Gespräch mit Gustavo Gimeno

Alain spannt den Bogen / „Was da passiert, kann man nicht wirklich erklären“: Im Gespräch mit Gustavo Gimeno
 Foto: Marco Borggreve

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Gustavo Gimeno ist seit acht Spielzeiten der Dirigent des Orchestre philharmonique du Luxembourg. Zeit für eine Bilanz in Form eines Interviews.

Tageblatt: Herr Gimeno, Sie sind mittlerweile in der achten Spielzeit beim OPL. Wie hat Ihre Arbeit die Entwicklung des Orchesters als Ensemble in diesen Jahren geprägt?

Gustavo Gimeno: Da gibt es natürlich sehr verschiedene Aspekte. Seit Beginn meiner Amtszeit sind sehr viele neue und junge Musiker zum Orchester gestoßen, was sich natürlich auch auf das Spiel und den Klang auswirkt. In dieser Zeit haben wir sehr viele Proben und Konzerte zusammen absolviert und ich kann nur sagen, dass ich die Bereitschaft der Musiker, ihre Arbeitsethik und ihre spielerische Qualität sehr schätze. Allein ein gutes spieltechnisches Niveau zu haben, reicht heute nicht mehr aus. Man muss sich als Orchestermusiker wirklich persönlich einbringen, man muss Lust auf Musik haben. Und ich denke, wir haben zusammen ein interessantes, vielseitiges Repertoire erarbeitet, neue Werke ausprobiert und alte bekannte Klassiker durch eine neue Brille gesehen. All dies funktioniert aber nur, wenn man bereit ist, zu geben und zu nehmen. Zudem haben wir begonnen, CD-Aufnahmen zu machen, etwas, das sehr wichtig für das Orchester ist, gerade auf internationaler Ebene.

Dann ist das Orchester auch viel auf Tournee gegangen …

…, was unheimlich wichtig ist. Sowohl für den Zusammenhalt des Orchesters als Gruppe wie auch für die Dynamik und die Flexibilität. Tourneen sind immer mit Stress verbunden, das muss man aus seiner Komfortzone heraus, muss flexibel sein, sich an einen neuen Konzertsaal mit einer neuen Akustik gewöhnen, den Klang schnell anpassen. Aber Tourneen ermöglichen auch viele gemeinsame Momente untereinander. Es ist auch interessant, zu sehen, wie sich ein Programm, also die Musik selbst, während einer Tournee entwickelt und wächst. Das letzte Konzert einer Tournee klingt normalerweise ganz anders als das erste, was wir noch hier in der Philharmonie in Luxemburg gespielt haben. Was da passiert, kann man nicht wirklich erklären. Aber es passiert.

Mir ist vor allem aufgefallen, dass das Spiel der Musiker viel feiner und nuancierter und der Klang des Orchesters enorm räumlich geworden ist. Der Klang hat eine wirkliche Tiefe bekommen, was das Klangbild dann auch sehr transparent macht.

Der Klang ist insgesamt wärmer geworden und ich finde, dass die Blechbläser sich sehr gut in den Gesamtklang integrieren, was vorher nicht unbedingt der Fall war. Die Musiker hören auch viel besser aufeinander und nehmen ihren eigenen Klang in der Gesamtheit war. Und dies fördert wiederum einen runden, räumlichen und vor allem sehr warmen Klang. Der Klang an sich aber ist etwas, worauf ich nie bewusst hingearbeitet habe. Der Klang ist eigentlich das Resultat unserer Zusammenarbeit. Und daher etwas sehr Natürliches. Ein natürlicher Klang oder besser, ein Klang, der natürlich durch eine kontinuierliche Arbeit entstanden ist, ist sehr wichtig für die Individualität eines Orchesters. Aber der Klang muss immer flexibel bleiben und sich den Werken anpassen. Bruckner klingt anders als Debussy und Beethoven anders als Ravel. Heute gelingt es den Musikern, bei jedem Werk, das wir proben und spielen, sofort einen passenden Klang zu finden. Das geht, weil jeder Musiker ein Gefühl für den Gesamtklang des Orchesters gefunden hat und sich wohl dabei fühlt.

Sie lassen das Orchester grundsätzlich in der deutschen bzw. europäischen Aufstellung spielen.

Generell ziehe ich die deutsche Orchesteraufstellung vor, also links die 1. Violinen, dann die Celli mit den Kontrabässen dahinter, die Bratschen und rechts von mir die 2. Geigen. Diese Aufstellung hat übrigens auch mein Vorgänger Emmanuel Krivine vorgezogen. Die meisten Werke der Literatur sind auch für diese Aufstellung konzipiert: Mozart, Beethoven, Brahms, Bruckner, Mahler, Strauss. Vor allem die Dialoge zwischen 1. und 2. Violinen kommen so viel klarer zu Gehör, was gerade bei Mahlers Symphonien eminent wichtig ist. Die amerikanische Aufstellung, also mit 1. Violinen, 2. Violinen, Bratschen und den Celli ganz rechts hat sich erst im 20. Jahrhundert entwickelt, wahrscheinlich um einen homogeneren Klang zu erzielen, aber ich weiß es nicht.

Der langjährige Konzertmeister Philippe Koch verlässt nach über 30 Jahren das Orchester und geht nun in Rente. Wie wichtig sind die Person und die Rolle des Konzertmeisters eigentlich bei einem Orchester?

Der Konzertmeister besitzt eine enorm wichtige Rolle. Sowohl für das Orchester als auch für den Dirigenten. Für jeden ist er der psychologische Ansprechpartner, er übermittelt die Ideen des Dirigenten an die Musiker und umgekehrt bringt er die Wünsche der Musiker zum Dirigenten. Auch auf musikalischer Ebene, also nonverbal, vermittelt er zwischen Dirigent und Orchester, muss also hellhörig in beiden Richtungen sein und zudem noch seinen Part als Orchestermusiker spielen. Deshalb ist es auch so schwierig, einen guten Konzertmeister zu finden, insbesondere, wenn er von außen kommt und nicht unbedingt das Orchester als Organismus kennt oder ihm die Erfahrung fehlt. Es ist wie bei einem Dirigenten, man muss Glück haben, den richtigen Dirigenten zum richtigen Zeitpunkt zu finden; genauso muss man Glück haben, einen Konzertmeister zu finden, der in dem Moment für das Kollektiv passt.

In welcher Hinsicht sind Gastdirigate für Sie wichtig?

Es ist immer sehr interessant, zu anderen Orchestern zu kommen. Ich habe das große Glück, zu den weltbesten Klangkörpern eingeladen zu werden. Das ist für mich eine persönliche Bereicherung. Zu hören, wie sie klingen, zu sehen, wie weit wir gemeinsam etwas in kurzer Zeit erarbeiten können. Zu einigen Orchestern kann man dann eine regelmäßige Zusammenarbeit aufbauen, zu anderen nicht. Das hat viel mit Chemie und mit Timing zu tun. Wichtig ist es, dass man zu den Orchestern zurückkehrt, mit denen man sich wohlfühlt. Und Gastdirigate sind immer eine sehr frische, spannende und intensive Erfahrung. Und wir versuchen auch immer, hochkarätige Gäste für das OPL einzuladen: Saraste, Nelsons, Harding, solche hochkarätigen Meister ihres Fachs können dem Orchester sehr viel Neues bringen.

Herr Gimeno, was passiert in Ihrem Kopf, wenn Sie dirigieren?

Es ist eine permanente Analyse dessen, was gerade passiert. Als Dirigent bin ich immer zwischen der Analyse, also dem ganzen technischen Ablauf mit Dynamik, Tempi, Klang, Architekur und dem Gefühl, was ich durch die Musik vermitteln will. Im besten Falle geht beides miteinander einher. Aber jedes Konzert ist verschieden. Manchmal lege ich mehr Wert auf kammermusikalische Phrasierungen, ein anderes Mal mehr auf Tempi. An einem Tag spielt das Orchester wie von selbst, an einem anderen hat es vielleicht Schwierigkeiten, in die Gänge zu kommen. All diese Faktoren müssen in jedem Moment analysiert und angepasst werden. Manchmal kann ich das Orchester von der Leine lassen, manchmal muss ich es strenger führen. Und nur wenn Orchester und Dirigent sich gut genug kennen, kann man diese Anpassungen spontan vornehmen, ohne dass das Publikum es unbedingt merkt. Und wenn dann ein ganz großartiges Konzert dabei herauskommt, dann haben Musiker und Dirigent an diesem Abend alles richtig gemacht. Am nächsten Abend kann es aber dann wieder ganz anders sein. (lacht)