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ForumDie Amerikanisierung der Politik: Wahlen sind keine Talkshows

Forum / Die Amerikanisierung der Politik: Wahlen sind keine Talkshows
Plakate und Merchandise ersetzen Wahlprogramme und politische Inhalte Foto: AFP/Suzanne Cordeiro

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Das einzige Großherzogtum der Welt steht vor doppelten Wahlen. Am 11. Juni werden die Gemeindevertreter bezeichnet. Am 8. Oktober werden die nationalen Parlamentarier gewählt. Eine Mehrheit davon bestimmt danach die neue Regierung.

Der viel beschworene Wählerwille ist eine Addition von sehr unterschiedlichen Meinungen. Einige Zehntausend Wähler wünschen sich die Sozis an der Macht, einige andere Zehntausend die CSV oder die DP. Die Grünen, die Piraten, die Linken habe ihre Anhänger. Es gibt nicht einen Volkswillen, es gibt die verschiedensten Wählerwünsche in einer von Wahl zu Wahl immer breiteren Pluralität.

Neben den klassischen Regierungs-Parteien DP, CSV, LSAP und Grüne machen sich ADR, Piraten, Linke noch Hoffnung. Die KP will es nochmals versuchen. Fokus nennt sich eine neue Formation. Andere werden antreten: Konservative, Impfgegner, Folkloristen.

Unser Wahlsystem verwischt die politische Willensbildung. Das erlaubte Panaschieren auf allen Listen gibt kontradiktorische Signale. Nicht wenige Mitbürger werden am 8. Oktober zwei Kreuzchen hinter zwei, gar drei „Spitzenkandidaten“ machen. Wünschen sich also mit dem „Xav“, dem „Luc“, der „Sam“ oder der „Paulette“ gleichzeitig verschiedene Ministerpräsidenten.

Diese Verwässerung der politischen Gewichtung des Wählerwillens findet ihr Echo in einem steigenden Desinteresse vieler Bürger am politischen Geschehen. In Luxemburg herrscht Wahlpflicht. Dennoch übt sich eine steigende Zahl der Volks-Souveräne in Abstinenz. Sie treten nicht zur Urne (wofür niemand eine Strafe befürchten muss), wählen weiß oder ungültig (wobei der Stimmzettel öfters mit abfälligen Bemerkungen über die Politik verunziert wird). Oder sie nützen ihr Wahlrecht nicht voll aus. Weit über 20 Prozent des „Wählerwillens“ geht damit verloren.

Desinteressiert?

Bei den Kommunalwahlen dürfen die ausländischen Mitbürger mitentscheiden. Sie müssen sich bloß in die Wählerlisten eintragen. Was weniger als ein Fünftel tut.

Leitartikler machen der Regierung und den Kommunen geballte Vorwürfe für die nur geringe Zahl ausländischer Mitbürger, die ihr demokratisches Recht zur Mitbestimmung in ihrer Wohngemeinde nützen wollen. Dabei ist es nicht der Mangel an Informationen, welche Hunderttausende vom Akt der freien Wahl abhält. Viele Mitbürger, Luxemburger wie Ausländer, sind schlicht und ergreifend nicht an Politik interessiert.

Das ist ein Trend in vielen Demokratien. In den USA beteiligen sich über die Hälfte der Wähler nicht an den Urnengängen. In Frankreich wurde Präsident Macron von weniger als einem Viertel der Wahlberechtigten wiedergewählt. Selbst in der Schweiz, dem Mutterland der direkten Demokratie, gehen selten mehr als ein Drittel der Wähler zu den „Votationen“. Eine Partizipation von fast der Hälfte der Bürger wird als Sensation gefeiert. Zum letzten Mal erreicht, als eine knappe Mehrheit gegen das Abschalten der Atommeiler stimmte.

Bei den vergangenen Wahlen für die Kammer der Arbeitnehmer, die Interessen-Vertretung aller Beschäftigten, ob luxemburgische oder ausländische Einwohner sowie die Grenzgänger, gaben weniger als ein Drittel einen Stimmzettel ab. Niemand musste sich einschreiben. Jeder erhielt den Wahlzettel zugeschickt, mit einem frankierten Briefumschlag zur Rücksendung. Doch 70 Prozent der Arbeitnehmer hielten es für unnötig, ihr Stimmrecht zu nutzen und ihren Stimmzettel in einen Briefkasten zu stecken!

Politik ohne Profil

Die Ausübung des demokratischen Grundrechtes der Bürger wird nicht durch die Verflachung der politischen Debatten gefördert. Polarisierende Fragen werden immer seltener. Alle Parteien sind für soziale Gerechtigkeit, für Solidarität mit den Armen und Kranken, für Kinderliebe und Tierschutz, für eine bessere Umwelt und den Erhalt des Klimas, für eine gesunde Ernährung, für sanften Tourismus, für Fußgänger und Radfahrer, aber auch für Parkplätze. Nachhaltigkeit ist das ungenau definierte Zauberwort. Dekliniert für alle Politikfelder bis hin zur „nachhaltigen Nachhaltigkeit“.

Kontrovers werden „Skandale“, vor allem „Skandälchen“, diskutiert. Was wusste die grüne Umweltministerin von den „illegal“ gefällten Bäumen um das Gartenhäuschen des grünen Député-maire von Differdingen? Weshalb hat der Député-maire von Hesperingen nicht eigenhändig die Unterschlagungen zweier Beamte entlarvt? Hat die Familienministerin während der Covid-Pandemie die Altenheime zu stark isoliert? Weshalb befolgte die Gesundheitsministerin nicht die „Experten“-Meinung für eine Zwangsimpfung aller Einwohner?

Die früher polarisierenden Streitfragen sind eigentlich alle gelöst. Die Todesstrafe ist abgeschafft. Die Sterbehilfe ist geregelt. Abtreibung ebenfalls. Verhütungsmittel sind gratis. Homosexualität ist längst entkriminalisiert. LGBT+-Rechte sind gesichert. Scheidungen werden unbürokratisch vollzogen. Die Trennung von Kirche und Staat ist besiegelt. Frauen haben die gleiche Rechte und Chancen wie Männer. Verdienen neuerdings besser als die ehemaligen Herren der Schöpfung.

Ein Ausflug in die direkte Demokratie scheiterte krachend am Volkssouverän. Das Wahlrecht für Ausländer bei Parlamentswahlen wurde ebenso abgelehnt wie die Einführung des Wahlrechtes ab 16 Jahren. Glücklicherweise für Bettel und Frieden wurde ebenfalls die Beschränkung der Mandatsdauer auf zehn Jahre für Minister verworfen.

Spitzenkandidaten ohne Programm

Die offensichtliche Leere der modernen Politik entlarven die Wahlkongresse aller Parteien. Früher wurde auf Kongressen um politische Ideen gestritten. Es gab bis in die 80er-Jahre bei den besonders diskutierfreudigen Sozialisten Kongresse, die sich zwei Tage hinzogen.

Heute kommen alle Parteien zu maximal vier Stunden an einem Vor- oder Nachmittag zusammen. Geregelt wie eine Talkshow im Fernsehen. Mit zwei Moderatoren. Parität ist höchstes Gebot. Dazu Videoeinlagen, pompöse Musik zum Einmarsch der Gladiatoren. Pardon, laut Gender-Stottern der „Spitzenkandidaten*innen“.

Die Dramaturgie ist überall die gleiche. Die Basis sitzt im Dunkeln, die Führung badet im Licht. Partei- oder Fraktionsobere heizen mit kecken Sprüchen die Delegierten auf. Diese erhalten vorbedruckte Schilder mit von Werbefritzen ausgedachten, nicht gerade tiefsinnigen Sprüchen: „Zesummen“, „No bei Iech“, „#Luc“. Schilder ersetzen Parteiprogramme. Gehören zur medialen Einkleidung der auserwählten Spitze. Nicht mehr in geheimer Wahl bestimmt. Sondern mit donnerndem Applaus eingesetzt. Einstimmig, wie in Nordkorea.

Falsch. Hat nichts mit „Demokratie“ sowjetischer Prägung zu tun. Ist ein Abklatsch der amerikanischen Wahlkultur, aufgebaut als „Show“.

Hashtags und bunte Schilder sollen die Wähler überzeugen
Hashtags und bunte Schilder sollen die Wähler überzeugen Foto: Editpress/Hervé Montaigu

An weitesten ging wohl die CSV mit ihrem Alt-Neu-Kandidaten Luc Frieden. Nach zehn Jahren in der Mottenkiste soll „Hashtag“-Luc der Beziehungspunkt für eine digital moderne CSV werden.

Das # wurde 2007 vorgeschlagen von Google-Ingenieur Chris Messina, als digitaler Anker für Internet-Kampagnen. Messina: „C’était le truc le plus simple, le plus stupide qui puisse fonctionner.“ Twitter, jener hochintellektuelle, auf 280 Zeichen Kommunikation beschränkte Kurznachrichten-Dienst, übernahm als erster das Hashtag. Lange vor der CSV.

Es ist bezeichnend, dass noch keine Partei ein Wahlprogramm präsentiert hat. Mit der löblichen Ausnahme von Fokus, wo Frank Engel als Ein-Mann-Betrieb einige Ideen zu Papier brachte. Etwa die Direktwahl des Ministerpräsidenten. Ohne Garantie, dass der Gewählte, ob Engel oder Teufel, eine Mehrheit im Parlament fände.

Offensichtlich sind bei den Parteien Gesichter Programm. Xavier Bettel oder Paulette Lenert, Luc Frieden oder Sam Tanson sind die Wahl. Ein Regierungsprogramm wird sich schon finden. Ohnehin macht die Realität – Covid, Krieg, Inflation, Energiekrise – Programme schnell obsolet.

Weil plakatierte Spitzenkandidaten in den Augen der Parteistrategen Wähler eher ansprechen als langatmige Programme, werden die Spitzenkandidaten pro Bezirk multipliziert. Für die Kommunalwahlen präsentieren die Grünen in Esch sowie „déi Lénk“ in der Hauptstadt gar vier Spitzenkandidaten. Weil ohnehin keiner Bürgermeister wird. Wann präsentiert eine Partei eine Liste mit nur „Spitzenkandidaten“? Basisdemokratisch von A bis Z aufgelistet!

Politik ist eine ernsthafte Sache. Es geht immerhin über die zukünftige Marschrichtung des Landes und seiner Bevölkerung. Die Parteien bleiben gefordert. Gibt es einen echten Wettstreit der Ideen, werden sich die Wähler auch mobilisieren.

Robert Goebbels ist ehemaliger LSAP-Minister und Europaabgeordneter
Robert Goebbels ist ehemaliger LSAP-Minister und Europaabgeordneter Foto: Editpress/Didier Sylvestre
Grober J-P.
6. April 2023 - 11.47

@Phil. Déi hun bis elo och keen Programm erausgin!

Phil
5. April 2023 - 4.34

Virwat dann net den ADR wielen? Déi machen keen esou een Show-Gedeesems!

Grober J-P.
4. April 2023 - 9.54

"Spitzenkandidaten ohne Programm."
Parteien ohne Programm! Wenn Programm, dann auf 280 Wörter beschränkt, man will ja niemanden überfordern.
Man wähle nach Gesichtern und Statur, fast wie bei den Affen.