Die Filmkandidaten, die seit jeher um den ersten Platz buhlten – „Citizen Kane“, „Vertigo“ und „Tokyo Story“ – wurden allesamt von Chantal Akermans „Jeanne Dielman, 23, quai du Commerce, 1080 Bruxelles“ (mit Delphine Seyrig in der Hauptrolle) überholt. Ein Paradigmenwechsel. Das erste Mal wurde diese Institution von einer Liste von einer Filmemacherin angeführt. Eine Menge Tinte ist deswegen geflossen. Jedermanns allerliebster reaktionäre Onkel der Cineastik, Paul Schrader, hat zum Beispiel von einem „distorted woke reappraisal“ gesprochen, bei der eine politisch korrekte Neugestaltung über allen (film-)historischen Faktoren stehe.
„Delphine et Carole, insoumuses“ ist ein Dokumentarfilm der Filmemacherin Callisto McNulty, in dem Delphine Seyrig und ihre Zeitgenossin, die Regisseurin Carole Roussopoulos, im Mittelpunkt stehen. Zwischen den beiden steht jedoch ein technisches „dispositif“: die Videokamera. Die Video-Entwicklung brachte diese beiden Frauen zueinander. Beide waren beim „Mouvement de libération des femmes“ engagiert – und packten die Videokamera am Schopf, um mit Aktionen und vor allem Filmen die Causa voranzutreiben.
Video hatte bis auf Godard noch niemand wahrgenommen. Ein Umstand, den Delphine und Carole umso mehr anspornte. Die beiden Frauen sahen im Video eine Demokratisierung der Repräsentationsmittel und machten alles, um dem Patriarchat der französischen 1970er eins auszuwischen. Mit Agitprop-Filmen (mit zum Teil sehr humorvoll verspielten Titeln) wie „Sois belle et tais toi!“, „Les prostituées de Lyon parlent“, „Maso et Miso vont en bateau“ oder „SCUM Manifesto“ schlug die Gruppe hohe Wellen. Ob nun Schauspielerinnen oder Sexarbeiterinnen zu Wort kamen, Politikern UND Politikerinnen Paroli geboten wurde oder Manifeste deklamiert wurden – Seyrig und Roussopoulos war es wichtig, Frauen auf ganzer Länge Mitspracherecht zu garantieren.
Bewegungen, Akte und Wörter der Frauen
Callisto McNultys 70-Minüter ist natürlich im Zusammenhang der Jeanne-Dielman-Pole-Position bei „Sight & Sound“ sehenswert – die städtische „Cinémathèque“ hat gerade eine kleine Akerman-Retrospektive auf dem Spielplan, während der der Dielman-Film noch einmal am 26. März um 16.30 Unr gezeigt wird. Aber eines gibt der Dokumentarfilm auch heute noch unmissverständlich zu verstehen: Die „lutte“ für Gleichberechtigung und Mitspracherecht ist noch lange nicht gewonnen. Die große Frage bei „Delphine et Carole, insoumuses“ ist, inwiefern Delphone Seyrig, der Filmstar, die Fähigkeit und die natürliche Kraft in sich trug, das Sprachrohr der feministischen Sache im Post-68er-Frankreich zu sein.
Eine Sicht auf Seyrig, die die herkömmliche Filmgeschichte komplett außer Acht lässt. Für die überwiegend männlich gekennzeichnete Cineastik war Seyrig vor allem die intellektuelle Diva in Filmen von Truffaut, Resnais und Buñuel. McNultys Film – der ausschließlich aus Archivmaterial, Fernseh- und Filmausschnitten besteht – rückt das von der Filmgeschichte verzerrte Bild Seyrigs in ein anderes Licht: jenes einer höchstpräzisen, immer charmanten und von klaren Worten geleiteten Frau. Der erste Platz bei der „Sight & Sound“-Umfrage ist politisch. „Jeanne Dielman“ war aber schon 1975 politisch. Radikal politisch. Und sucht bis heute seinesgleichen.
Und während Akermans Film die alltäglichen Bewegungen einer alleinerziehenden Mutter, Hausfrau und Gelegenheitsprostituierten politisiert, so politisierten Delphine und Carole die Bewegungen, Akte und Wörter der Frauen außerhalb des Kinobildes.
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