Tageblatt: Drei Jahre sind vergangen, seit es in Luxemburg „Bleif doheem“ hieß. Wie hat die Pandemie unseren Alltag beeinflusst?
Prof. Dr. Claus Vögele: Geblieben ist ganz klar der durch die Pandemie erzwungene Fakt, sich mit der Telearbeit auseinanderzusetzen. Die arbeitende Bevölkerung – solange man nicht einen systemrelevanten Beruf hatte – musste zu Hause bleiben. Auch die Lehre funktionierte zum Beispiel plötzlich digital. Ich hätte mir das vor der Pandemie nie so gut vorstellen können. Jetzt aber sind wir alle relativ versiert darin, Besprechungen online abzuhalten. Da man nicht von A nach B kommen muss, wird Zeit eingespart. Oder Treffen werden heute hybrid abgehalten: Wer nicht anwesend sein kann, schaltet sich online zu.
Unser Arbeitsalltag hat sich also verändert. Wird das so bleiben?
C.V.: Das soll jetzt nicht heißen, dass alle nur noch Telearbeit machen werden. Wahrscheinlich ist das auch branchenabhängig. Als Lehrender ist es für mich zum Beispiel angenehmer, in die Gesichter von Menschen zu schauen, statt nur anonyme Kästchen auf einem Bildschirm vor mir zu haben. Und ich denke, dass es auch für die Zuhörer so besser ist. Und doch: Wir haben gesehen, wie flexibel wir zum Beispiel bei der Verabredung von Terminen sein können. Und das wird bleiben – eine durchaus positive Erfahrung. Allgemein sollten wir uns fragen, was wir durch die Pandemie gelernt haben und wo es Chancen gibt, die es zu nutzen gilt.
Was haben wir denn durch die Pandemie gelernt, was könnten diese Chancen sein, die Sie ansprechen?
C.V.: Ich bin wahrscheinlich nicht der Einzige, der befürchtet, dass dies nicht die letzte Pandemie war. Deshalb sollten wir über die gemachten Erfahrungen nachdenken. Und reflektieren, was gut und was nicht so gut gemanagt wurde. Die Pandemie hat wie eine Art Vergrößerungsglas gewirkt: Bereits bestehende Probleme in der Gesellschaft sind sehr deutlich geworden und wurden an die Oberfläche gebracht. Dass manche Menschen ein Misstrauen gegenüber staatlicher Regulierung haben, ist vielen Politikern vielleicht jetzt erst bewusst geworden.
Sie sprechen das Misstrauen an. Viele Menschen waren und sind vielleicht auch immer noch skeptisch, was die Impfung angeht.
C.V.: Genau, Impfskeptiker gibt es schon lange. Im Rahmen der Pandemie allerdings wurde diese Skepsis aktualisiert – unter anderem, weil die Entwicklung der Impfstoffe so schnell voranschritt. Unsere Forschungen haben gezeigt, dass Menschen mit einem geringen Vertrauen in die Regierung auch weniger bereit dazu sind, sich impfen zu lassen. Das ist weniger trivial, als es jetzt klingt, denn der Staat impft ja nicht. Es gibt viele Gründe, warum Menschen in Einzelfällen ein solches Misstrauen entwickeln: gefühlte Vernachlässigung, das Empfinden des Nicht-gehört- und Nicht-gesehen-Werdens oder der Gedanke, vergessen worden zu sein. Alles Gründe, die auf viele Skeptiker zutreffen. Verantwortungsträger sollten jetzt reflektieren, was das für ihr künftiges Handeln bedeutet und wie diese Bevölkerungsmitglieder besser erreicht werden können.
Welche Auswirkungen hat die Pandemie? In einem Interview mit dem Tageblatt gingen Sie 2020 davon aus, dass diese „negative Folgen für die menschliche Psyche“ haben wird. Ist es so gekommen?
C.V.: Die psychische Gesundheit der Menschen hat tatsächlich extrem gelitten. Angst- und Depressionswerte sind hoch – höher als vor der Pandemie. Anhand von mit Fragebögen erfassten Daten wird das deutlich. Diese zeigen: Die Pandemie hallt nach. Nicht alle, die derzeit erhöhte Werte haben, werden später eine Störung entwickeln. Für vulnerable Personen – die möglicherweise vorher schon Probleme hatten – ist das Risiko jedoch größer. Ich erwarte, dass die Folgen verzögert auftreten werden. Erst in den nächsten Jahren werden wir sehen, wie viele tatsächlich eine Angststörung, Depression oder eine andere psychische Störung entwickeln werden.
Demzufolge ist das volle Ausmaß also noch nicht erkennbar?
C.V.: Nein. Psychische Störungen brauchen Entwicklungszeit und tauchen – mit wenigen Ausnahmen – nicht einfach plötzlich auf. Nach Belastungserfahrungen nutzen Betroffene vielleicht Hilfsmittel wie Alkohol, um weiter zu funktionieren. Bis dann die nächste Herausforderung kommt und das System zusammenbricht. Wir werden jetzt anfangen, mehr Menschen zu sehen, die während der Pandemie so Schaden genommen haben, dass sie sich auf dem Weg zu einer psychischen Störung befinden. Wie viele das sein werden, ist im Augenblick reine Spekulation. Klar für mich ist: Wir können nicht zu einer Situation zurückkehren, wie sie vor der Pandemie war, in der psychische Störungen viel zu oft als vernachlässigbar angesehen wurden.
„Psychische Störungen werden als vernachlässigbar angesehen“ – was meinen Sie damit genau?
C.V.: Ein Herzinfarkt wird zum Beispiel lebensbedrohlicher eingestuft als eine Angststörung oder schwere Depression. Das ist erklärbar durch die Unmittelbarkeit der Lebensbedrohung – auf mittlere und längere Sicht allerdings ist diese Unterscheidung völliger Unsinn. Denn auch an psychischen Störungen sterben Menschen. Eine der Lehren der Pandemie sollte eine stärkere Berücksichtigung der Bedeutung der psychischen Gesundheit sein. Wir brauchen Pläne dafür, wie mit einer höheren Anzahl von Betroffenen umzugehen ist. In Luxemburg wird ein solcher aktuell übrigens entworfen: Ich bin Teil einer Gruppe, die unter Anleitung des Gesundheitsministeriums den nationalen Plan für psychische Gesundheit erarbeitet. Zum Teil ist es auch der Pandemie zu verdanken, dass das jetzt auf den Tisch kommt.
Gilt denn die Pandemie in den Köpfen der Menschen als beendet?
C.V.: Wir tragen keine Masken mehr und die Situation hat sich weitestgehend normalisiert. Die Menschen haben auf jeden Fall weniger Angst davor, sich anzustecken. Das zeigen die Ergebnisse unserer Pandemic-Umfrage (siehe Kasten): 2020 haben von rund 8.000 befragten Personen aus Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Italien, Schweden sowie Spanien 65 Prozent diese Frage mit „Ja“ beantwortet. Ende 2022 waren es 40 Prozent. Und wahrscheinlich ist es inzwischen weiter zurückgegangen. Ich vermute, das liegt daran, dass der Großteil der Bevölkerung mittlerweile Corona hatte. Und – wenn man wie ich viel Glück hatte – während drei Tagen starke Erkältungssymptome hatte und dann war es das. Dazu muss man sagen, dass ich zum Zeitpunkt der Erkrankung schon dreimal geimpft war.
Zur Person und Forschung
Prof. Dr. Claus Vögele ist Leiter des neuen „Institute for Advanced Studies“ an der Universität Luxemburg und übernahm dort zuvor die Leitung des Fachbereichs für Verhaltens- und Kognitionswissenschaften. Für das Projekt „Pandemic“ hat der Psychologe seit Beginn der Pandemie gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus der Psychologie sowie den Wirtschaftswissenschaften den Einfluss der Lockdownmaßnahmen auf das Wohlbefinden der Menschen in sechs Ländern untersucht: Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg, Schweden und Spanien. Seit 2020 werden für diese repräsentative Studie rund 8.000 Personen aus den verschiedenen Ländern viermal im Jahr befragt. Auch hat er seit dem letzten Jahr in Zusammenarbeit mit dem Ettelbrücker „Centre hospitalier neuro-psychiatrique“ (CHNP) zu den psychologischen und neuropsychologischen Folgen im Zusammenhang mit Long Covid geforscht. Dafür wurden Personen in Deutschland, Luxemburg und der Schweiz befragt. Claus Vögele kam 2010 als Professor für Klinische und Gesundheitspsychologie an die Universität Luxemburg. Er ist außerdem Psychotherapeut und praktiziert privat.
Und trotzdem ist Corona nicht für alle überstanden. Was ist mit Betroffenen, die nach der Erkrankung mit Long Covid zu kämpfen haben?
C.V.: Es gibt eben dann doch eine ganze Anzahl von Menschen, die auch Monate nach der Infektion noch mit Symptomen zu kämpfen haben: mit Ermüdung, Schmerzen, oder sie kommen schnell aus der Puste. Hinzu kommen psychische und kognitive Einschränkungen. Betroffene klagen zum Beispiel darüber, sich nicht konzentrieren zu können, unter Gedächtnisverlust zu leiden, leicht irritierbar zu sein oder sich insgesamt als nicht belastungsfähig zu empfinden. Wenn solche Symptome über einen gewissen Zeitraum anhalten und andere Gründe dafür nicht infrage kommen, spricht man laut Weltgesundheitsorganisation von Long Covid.
Long Covid ist eine vergleichbar junge Erkrankung, was bringt das mit sich?
C.V.: In der Wissenschaft gibt es aktuell viele Bemühungen, Long Covid auf die Spur zu kommen. Die Ergebnisse einer Studie in Zusammenarbeit mit dem Ettelbrücker „Centre hospitalier neuro-psychiatrique“ (CHNP) mit einer internationalen Stichprobe von Menschen in Deutschland, Luxemburg und der Schweiz werden aktuell ausgewertet. Diese könnten eine bessere Diagnostik und dann maßgeschneiderte Behandlungsprogramme möglich machen. Das sehr Unangenehme derzeit ist, dass wir vieles noch nicht so richtig verstehen. Deshalb forschen wir ja. Die Pandemie findet gerade offenbar ihr Ende und wir sind heftig dabei, uns mit den Nacheffekten zu beschäftigen. Auch wenn es schwer ist – und das verstehe ich absolut –, kann ich nur um Verständnis und mehr Geduld für die Wissenschaft bitten.
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