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LuxFilmFest Die unscheinbaren Kräfte im Kampf gegen Pinochet: „1976“ von Manuela Martelli

LuxFilmFest  / Die unscheinbaren Kräfte im Kampf gegen Pinochet: „1976“ von Manuela Martelli

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Chile hat sich vielleicht Augusto Pinochets entledigt, doch die Wunden, die seine Militärdiktatur hinterlassen hat, sind bis zum heutigen Zeitpunkt nicht verheilt. Der Versuch eines Referendums der Verfassung, welche seit 1980 – also Pinochet-Zeiten – steht, ist gescheitert. Und das, obwohl Massenproteste dieses Referendum erst möglich gemacht haben. Kritik am Plebiszit hin oder her, der Wunsch nach Veränderung ist auch Jahrzehnte danach akut.

Manuela Martelli hat die letzten Pinochet-Jahre als Kind miterlebt. Die Schauspielerin hat jetzt mit „1976“ ihr Spielfilmdebüt als Regisseurin inszeniert und wurde damit prompt in Cannes in die Quinzaine eingeladen. Kinder gibt es in ihrer Erzählung auch eine Menge, Martellis Fokus liegt aber auf einer erwachsenen Frauenfigur.

Im titelgebenden Jahr ist Carmen Teil der gehobenen Mittelklasse Chiles. Ihr Mann ist Chefarzt in einem Krankenhaus in Santiago, ihre Kinder sind selbstständig und haben Kinder und die Familie ist im Besitz eines Ferienhauses an der Küste.

Das Leben zieht drei Jahre nach dem Militärcoup seine ruhigen Bahnen – Carmen ist mit Renovierungsarbeiten beschäftigt –, doch die politische Säuberung geht weiter. Eines Tages wird Carmen vom Dorfpriester gebeten, ihr zu helfen. In seinen Kirchengemäuern beherbergt er einen jungen Mann, der eine Schussverletzung erlitten hat. Ein gewöhnlicher Krimineller, beteuert der Padre, und da Carmen ein Medizinstudium angefangen hatte und über die Jahre beim Roten Kreuz tätig war, ist sie seine einzige Hoffnung. Carmen ahnt jedoch, dass dieser verletzte Mann alles andere als nur ein Kleinkrimineller ist.

„1976“ lässt auf den ersten Blick – der locker 30 Minuten dauert – andeuten, dass es hier um ein filmisches Zwitterwesen handelt. Martellis Debüt ist in erster Linie eine subtile, fein ausgearbeitete Charakterstudie einer Frau, deren Bemühungen während dieser Zeit stellvertretend sein will für die oftmals unbekannten und im Hintergrund gelassenen Frauen unter Pinochet.

Auch wenn das dramaturgische Steinchen, das Carmens Weg zur konterrevolutionären Beteiligung lostritt, einen Funken manieriert und einfach geschrieben ist, wird das Psychogramm ihres Aktivismus erfrischend durcherzählt.

Politisches Erwachen

Dem Padre zu helfen, ist für Carmen nämlich zu Beginn auf dem gleichen Level, wie einer Gruppe von Sehbehinderten in der Kirche vorzulesen, den Familienbesuch am Wochenende vorzubereiten oder den richtigen cremefarbenen Rosarot-Ton für die anzustreichende Verandamauer auszusuchen.

Das politische Erwachen ist für Carmen ein heranschleichendes und rührt nicht von einer Epiphanie, die der Coup drei Jahre zuvor hätte auslösen können. Carmen ist ein Resultat ihrer gesellschaftlichen Zugehörigkeit und agiert vor allem, weil es von ihr erwartet wird. Eine Fassade, die im Verlauf – dank der beeindruckend nuancierten Darstellung von Aline Küppenheim – immer größer werdende Risse bekommt. Martelli sowie Küppenheim haben die Figur und die Geschichte in Anlehnung an die eigene Mutter und Großmütter gezeichnet.

Das Zwitterwesen des Films kristallisiert sich erst nach und nach heraus. Eine maßgebliche Rolle in dieser Hinsicht spielt die Brasilianerin Mariá Portugal, die die Filmmusik beigesteuert hat. Hat ihr Landsmann Kleber Mendonça Filho für seinen letzten Spielfilm Synthmusik aus der Feder von John Carpenter lizensiert, schrieb Portugal für „1976“ ihre eigenen beeindruckenden Carpenter-Variationen, die einen sehr erfrischenden Kontrapunkt zu diesem Epochenfilm setzen.

Alte Synthesizer treffen in ihrem Soundtrack auf Blechblasinstrumente und tragen maßgeblich zur Atmosphäre des Films bei. Den ruhigen Bildern – nur wenige, ganz bewusst ausgewählte Einstellungen sind mit einer Schulterkamera gefilmt – und der Psyche Carmens verpasst der Soundtrack aus dissonanten Arpeggios und breiten Basstönen die Paranoia, die ganz langsam auf den Zuschauer herüberschwappt. Carmens Mission und die Bedrohung, die sie im Rücken verspürt, sind gleichermaßen konkret und abstrakt zugleich. Ohne das Zusammenspiel von Küppenheims Blicken und Portugals Musik würde dem Film so manches abhandenkommen.

Ob es nun die Mütter auf der Plaza del Majo in Buenos Aires oder andere, unsichtbare Frauen in Chile sind, es ist ein durchaus willkommener Trend, dass südamerikanische Filmemacherinnen – und, wie im Falle von „1976“, zusammen mit ihren brasilianischen Musikerinnen – sich der nicht allzu weit entfernten Vergangenheit ihres Kontinents widmen und bisher nicht gesehene Perspektive anbieten.

„1976“ läuft am kommenden Samstag um 10 Uhr in der Cinémathèque.