Das Heranwachsen und familiäre Leben steht dabei oft im Mittelpunkt. „I Have Electric Dreams“ ist der Debütfilm der nicht einmal Mitte 30-jährigen Valentina Maurel. Ob sie aber mit ihrem Film konkret Biografisches verarbeitet – die kapillare Ähnlichkeit zwischen Figur und Regisseurin ist frappant –, ist nicht weiter wichtig. Tatsache bleibt: „Coming of age“-Geschichten einer Regisseurin, die dann auch noch die Geschichte einer pubertierenden jungen Frau im Mittelpunkt hat, sind eher die Ausnahme als die Regel.
Ihr Film mit dem sehr poetischen Titel spielt in einer nicht benannten Stadt Costa Ricas – wahrscheinlich jedoch San José. Nebenher angemerkt: Regisseurin Maurel ist zwar gebürtige Costa Ricanerin, lebt aber in Europa.
Die ProtagonistInnen ihres Debüts begegnen wir das erste Mal im Auto. Der Himmel ist blau, im Radio untermalt ein fröhlicher Song das schöne Wetter, Mutter Anca will die Musik lauter machen, doch binnen weniger Sekunden wird klar, dass Vater Martin nicht danach ist. Am Ziel angekommen steigt er aus dem Pkw und macht einen cholerischen Anfall, schlägt nicht nur gegen das Auto, sondern knallt sich auch die Stirn gegen das Garagentor blutig. Anca lässt sich scheinbar nicht mehr von solchen Momenten beeindrucken, auf der Rückbank sitzen aber noch zwei Kinder: die 15-jährige Eva und die kleine Sol, die sich in die Hose macht.
Langsam wird klar, dass das Elternpaar getrennt lebt. Die beiden Kinder, vor allem die pubertierende Eva – und die emotional genauso überforderte Familienkatze –, harren die sommerlichen Hundstage an diesen beiden Leitungen aus, die immer wieder unerwartet Stromschläge abgeben. Während die Mutter nervt und nicht von Hausrenovierungsplänen abzuhalten ist, bandelt Eva mit ihrem Vater an, der inmitten costa-ricanischer Künstlerexistenzen seinen jugendlichen Lebensstil wieder aufnimmt, anstatt sich auf Wohnungssuche zu machen.
Geerdetes Zwei-Personen-Stück
„I Have Electric Dreams“ ist auf den ersten Blick ein bescheidener Film. Aber die Geschichte, die sich vor allem zwischen Vater Martin und Tochter Eva abspielt, ist keine, die sich die rosarote Brille aufzieht und romantisiert auf Familie, Pubertät und das sexuelle Erwachen blickt. Vor allem ist es die trockene Einsicht, dass Kinder mehr Eigenschaften von ihren Eltern vererben, als ihnen vielleicht lieb ist.
Der Weg zu dieser eventuellen Einsicht ist aber öfters schmerzhafter als nicht. Valentina Maurel inszeniert die Geschichte des Vater-Tochter-Gespanns aber nicht als hochdramatisches Familienporträt, sondern als geerdetes Zwei-Personen-Stück, in dem beide Parteien auf Augenhöhe miteinander agieren.
Tochter und Vater sind wie zwei Magnete, die, je nachdem die zwei Teile gerade zueinander gedreht sind, brutal zu- oder auseinandergerissen werden. Ob die beiden zu- oder voneinander klatschen, wann die oft tatsächlich physische Brutalität heftiger ist, wird nie wirklich klar.
Das Zusammenspiel der beiden Spieler Daniela Marín Navarro und Reinaldo Amien Gutiérrez ist das große Plus des Films und es wäre zu einfach, die Rolle Maurels bei dieser Dynamik außen vor zu lassen. Sie schmückt ihr Drehbuch und ihre mit Kameramann Nicolás Wong Díaz eingefangenen Bilder mit Details aus, die vielleicht auf den ersten Blick nicht ins Auge stechen, die das Familienbild aber wahrhaftiger und beide Parteien nachvollziehbar machen.
Die Schulterkamera gibt dem Film eine zusätzliche Unmittelbarkeit, die einen tollen Kontrapunkt zu den warmen Farben Costa Ricas und vor allem der schönen Gesichter setzt. Eine schöne Überraschung: „Tengo sueños eléctricos“ hat in Locarno nicht nur die Preise für beide Spieler eingeheimst, sondern auch jenen für die Regiearbeit Maurels. Wer braucht dann noch einen „Goldenen Leoparden“?
Info
Der Film läuft am Freitag um 21.15 Uhr im Ciné Utopia, am Samstag um 18.30 Uhr (in Anwesenheit der Regisseurin Valentina Maurel) sowie am kommenden Donnerstag um 16.00 Uhr in der Cinémathèque.
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