Das Resultat sei für keinen Sozialarbeiter eine Überraschung gewesen, sagt Maurice Bauer, „da unsere Streetworker jeden Tag mit den Betroffenen in Kontakt sind“. Zwei Punkte missfielen jedoch den Verantwortlichen der Gemeinde Luxemburg. „Eine Zahl wie diese einfach nur in den Raum zu stellen, bringt nicht viel.“ Doch es ist nicht nur das Fehlen einer Kontextualisierung, das er kritisiert, auch die Art und Weise, wie die Zahlen vorgestellt wurden.
„Das Familienministerium trat mit der Bitte der Zählung an uns heran. Die war aber nur möglich dank der Mitarbeit all unserer Dienste. Es wurden extra dafür Mitarbeiter1 freigestellt. Die Finanzierung der Aktion lief größtenteils über die Gemeinde Luxemburg“, sagt Bauer.
„45 der 60 der Leute, die gezählt haben, sind von der Gemeinde Luxemburg bezahlt“, präzisiert Christof Mann, Leiter der Sozialdienste der Gemeinde Luxemburg. „Das gibt dann noch ein extra Geschmäckle, wenn sich dann eine Ministerin allein hinstellt, um das Ergebnis zu präsentieren.“
„Als Stadt Luxemburg bedauern wir es erst mal, dass wir nicht an der Pressekonferenz teilnahmen“, meint Maurice Bauer. „Es ist schon wichtig, die Zahlen dann auch in den Kontext zu setzen, vor allem auch, um zu zeigen, dass wir in guter Zusammenarbeit mit dem Familienministerium über Jahrzehnte viele Maßnahmen ergriffen haben, um den Menschen auf der Straße zu helfen.“ Die Nachtasyle, die „Wanteraktioun“ oder der „Premier appel“ seien alles Teile des sozialen Systems, das es in der Hauptstadt gibt. Außer in der „Wanteraktion“ gebe es in der Gemeinde rund 150 Betten für Obdachlose (u.a. „Haltes de nuit“, „Foyer Ulysse“, Abrigado).
Sind die Zahlen denn überhaupt nützlich? Christof Mann und sein Kollege Marc Meyers, Leiter des „Service Jeunesse“, dem auch die Streetworker unterstehen, sagen eindeutig: „Nein, so nicht.“ „Wenn wir von den Zahlen ausgehend ein Monitoring erhalten können, um den Menschen noch gezielter in ihrer Situation helfen zu können, dann ja“, sagt Mann.
Vielfältige Probleme
Bauer weist – so wie die Ministerin es auch tat – auf die Vielfältigkeit der Probleme von Menschen auf der Straße hin. Und schließlich habe die Zählung auch ergeben, dass etliche der Betroffenen bereits Zugang zu einer Betreuung haben.
Angaben der hauptstädtischen Streetworker zufolge gibt es unter den Obdachlosen rund 60 mit mentalen Problemen. Und in diesem Bereich fehle es definitiv an angemessenen Hilfseinrichtungen. „Da muss in den kommenden Jahren massiv investiert werden“, fordert Bauer. Doch die Hilfe für diese Kategorie von Personen ist problematisch. Es kann niemand gezwungen werden, sich einer Behandlung zu unterziehen; der Kranke muss sich seiner Krankheit erst bewusst sein. „Das ist die conditio sine qua non, dass sie überhaupt behandelt werden“, erklärt Mann. „Und die Behandlung muss mit viel Personal vorbereitet werden, und dann muss es Einrichtungen geben, die sie dauerhaft aufnehmen.“
Es sei schwierig, an psychisch Kranke heranzukommen, um eine nötige Vertrauensbasis aufzubauen. „Eine sehr zeitaufwendige Arbeit.“ Dazu kommt der allgemeine Mangel an Psychiatern und Pflegestellen. Zudem wurden in den Neunzigerjahren massiv stationäre Betten abgebaut.2 Die Kranken sollten ambulant behandelt werden.
Heterogene Zahlen
„Macht man eine punktuelle Zählung auf der Straße, dann fallen auch solche Menschen darunter, die nur hierherkommen, um zu betteln, und nicht unbedingt auch hier übernachten, psychisch Kranke, die durch alle Strukturen gefallen sind, und Drogenabhängige. So eine punktuelle Zählung muss in andere Statistiken eingebunden sein. Obdachlose haben meistens mit vielen Problemen zu kämpfen“, sagt Christof Mann. „Wir können einen sozialpädagogischen Rahmen bieten, doch alles können wir nicht tun, medizinisch sind wir z.B. nicht ausreichend aufgestellt.“
„Aber es muss in der Stadt Luxemburg im Winter niemand auf der Straße übernachten“, unterstreicht Maurice Bauer noch einmal, „und es muss auch niemand hier Hunger leiden. Und auch außerhalb der Wintermonate sind unsere Einrichtungen nicht ausgelastet.“
Die Zahlen seien allerdings sehr heterogen. Unter den Obdachlosen seien auch Menschen, die im Herbst mit dem Bus aus Osteuropa nach Luxemburg kommen und wieder im Frühjahr in ihre Heimat zurückwollen. Maurice Bauer scheut sich nicht, von „Sozialtourismus“ zu reden. „Wo es ein Angebot gibt, gibt es auch eine Nachfrage. Wenn ich als Bettler fünf Euro am Tag in Metz verdiene, aber 50 in Luxemburg, ist die Wahl schnell getroffen. Jeder von uns würde wohl das Gleiche tun.“
Christof Mann weist darauf hin, dass es ist eine politische Entscheidung ist, die Winteraktion eben nur zeitlich begrenzt anzubieten, „es ist eine Überlebenshilfe im Winter, und keine systematische Unterbringung von Leuten, die aus irgendwelchen Gründen in Luxemburg ihr Glück suchen.“ In der Winteraktion schliefen auch Menschen mit kurzzeitigen Arbeiten, die sich keine normale Wohnung leisten könnten. „Die Anzahl der Menschen, die in der Winteraktion übernachten, ist nicht gleich der Anzahl derer, die den Bedarf haben, hier in Luxemburg untergebracht zu werden.“
„Wir sind nicht gegen zukünftige Zählungen, aber man darf die Zahlen nicht einfach ohne Erklärung im Raum stehen lassen, ohne zu zeigen, dass die Gemeinde Luxemburg seit Jahrzehnten proaktiv ist. Keine Frage, dass wir auch bei den nächsten Zählungen helfen werden, es ist ja in unserem Interesse, dass wir das bestmögliche Bild der Lage erhalten“, fährt Bauer fort. „Wir werden dem Familienministerium stets ein Partner sein, doch wir wären froh, wenn wir dabei sein könnten, um die nötigen Erklärungen dazu zu geben.“
1) von Caritas, Croix-Rouge, Interactions, Jugend- an Drogenhëllef, CNDS
2) s. „Rapport Rössler sur l’évaluation et la poursuite de la décentralisation de la psychiatrie au Luxembourg“, aus dem Jahr 2005, unter gouvernement.lu/fr/actualites/toutes_actualites/articles/2005/06/27di_bartolomeo_rapport.html
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