Zum ersten Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine gab es haufenweise Kommentare. Mir gefielen einige Aussagen von Jean-Claude Juncker im Land. Etwa: „Mich frappiert, wie schnell unsere Argumentation in Kategorien des Kalten Krieges zurückgefallen ist.“
Effektiv gefallen sich zu viele Politiker und Journalisten in einseitigen Schwarz-Weiß-Malereien. Hier der böse Putin, der neue Zar, der neue Stalin. Dort der „freie Westen“, der seine „Werte“ verteidigt, notfalls bis zum letzten Ukrainer.
Ich will nicht falsch verstanden werden. Der vom russischen Präsidenten befohlene Überfall auf die Ukraine ist nicht zu entschuldigen. Kann nicht schöngeredet oder relativiert werden. Doch „die USA sind nicht die Engel der Weltgeschichte“ (Juncker). Und „die klugen Nachbetrachter“ (Juncker), die schon immer alles über Putins Agressionsgelüste gewusst haben wollen, verkennen die Komplexität der geopolitischen Verstrickungen auf dem eurasischen Kontinent.
Tatsache ist, dass das russische Zarenreich, abgelöst von der Sowjetunion, danach von der viel kleineren Russischen Föderation, seit jeher ein rückständiger Staat war. Dessen geografische Ausdehnung eine nur mit Gewalt zusammengehaltene ethnische, kulturelle und religiöse Diversität umfasste. Das war so unter den Zaren, dann unter der UdSSR. Michael Gorbatschow, der das unregierbare Gebilde demokratisieren wollte, bahnte mit seinem Reformbestreben den lange unterdrückten, nationalistischen und religiösen Exzessen den Weg.
Am 17. März 1991 befragt Noch-Präsident Gorbatschow die Bürger der Sowjetunion über ihre Bereitschaft, aus der UdSSR eine „erneuerte Föderation von souveränen und gleichberechtigten Staaten“ zu machen, in welcher „die Rechte und Freiheiten der Menschen aller Nationalitäten garantiert“ seien. 80 Prozent der Wähler nahmen am Referendum teil. 75 Prozent stimmten dem Vorschlag zu. Doch in sechs damaligen Republiken (Estland, Lettland, Litauen, Armenien, Georgien und Moldawien) wurde das Referendum boykottiert. Der Spaltpilz wirkte bereits.
Am Tag des Referendums veröffentlichte die Zeitung Moskauer Nachrichten eine Karte über die Konfliktzonen in der damaligen Sowjetunion. Vermerkt wurden 76 Streitfälle, allein 26 im Kaukasus. Von den 23 Grenzen zwischen den damaligen Sowjetrepubliken waren bloß drei nicht umstritten. Überall lauerten Auseinandersetzungen über Gebietsansprüche und Grenzverläufe. Dazu haufenweise ethnische und religiöse Konflikte. Daran zerbrach letztlich die Sowjetunion. Darunter leidet Russland noch heute. Das seit jeher Minderwertigkeitskomplexe gegenüber dem westlichen Europa hatte. Der große Schriftsteller Dostojewski schrieb 1876: „C’est un fait remarquable que l’Europe ne nous aime pas et ne nous a jamais aimés; elle ne nous a jamais comptés parmi les siens.“
George Kennan, welcher 1946 in seinem berühmten Moskauer Telegramm die US-Politik des „Containement“ gegenüber dem Weltkrieg-II-Alliierten Stalin begründete, gab folgende Einschätzung der russischen Volksseele: „Au fond de la vision névrotique du Kremlin sur les affaires mondiales se trouve le sentiment d’insécurité russe traditionnel et instinctif. (…) A cela s’est ajouté, au fur et à mesure que la Russie est entrée en contact avec l’Occident économiquement avancé, la crainte de sociétés plus compétentes, plus puissantes, plus organisés.“
Nehmen, ohne zu geben
Gorbatschow, der Reformer, wurde ausgenutzt und dann fallen gelassen. Die amerikanische Historikerin Mary Sarotte schreibt in ihrem Buch „Not One Inch“: „Die USA realisierten, dass sie nicht nur den Kalten Krieg gewinnen konnten, sondern noch viel mehr.“ Was zur progressiven Ausdehnung der NATO und von Moskau aus gesehen zu einer immer engeren Umzinglung des russischen Herzlandes führte.
Putins Angriff auf die Ukraine war ein wenig erwarteter Kurzschluss. Auch wenn der US-Geheimdienst vorgewarnt hatte. Doch CIA und Co haben in der Vergangenheit so viele Lügen ausgestreut, dass die amerikanische Propaganda immer misstrauisch beäugt wird. Hinzu kommt, dass die amerikanischen „Werte“ sehr variabel angewandt werden. Dazu der französische Geograf Jean Radvanyi, auf dessen Buch „Russie, un vertige de puissance“ dieser Artikel teilweise aufbaut: „Dans de nombreux pays du Sud, ces valeurs apparaissent souvent comme l’injonction des anciennes puissances coloniales cherchant à maintenir leur domination dans un monde toujours plus inégalitaire.“
Was erklärt, dass nicht nur China und Indien, die angeblich größte Demokratie der Welt, sich bei Verurteilungen Russlands in der UNO der Stimme enthalten, sondern ebenfalls Dutzende afrikanische, asiatische und selbst südamerikanische Staaten.
Kein Krieg dauert ewig. Irgendwann werden die menschlichen Leiden zu bedeutend. Die Europäer, die mehr Kollateralschäden als die Amerikaner erleiden, sollten deshalb auf einen Waffenstillstand und auf Verhandlungen drängen.
Wie dem auch sei. Putins Rechnung ging nicht auf. Die Ukraine brach nicht zusammen. Amerikaner und Europäer üben einen selten erlebten Schulterschluss. Finnland und Schweden wollen in die NATO. Die erst seit 1991 unabhängige Ukraine war ein eher künstliches Produkt der Sowjetherrschaft. Mit zwar einer Mehrheit Ukrainer, aber auch vielen Russen, Weißrussen, Polen, Ungarn, Tartaren, Bulgaren und anderen ethnischen Minderheiten. Der Krieg machte aus dem Land des Präsidenten Selenskyj eine „unerwartete Nation“ (Jean Radvanyi).
Dennoch wird die Ukraine den Krieg gegen die Atommacht Russland nicht gewinnen. Die Ukraine kann mit westlicher Waffenhilfe besetzte Territorien zurückerobern. Doch wird sie das viel größere Russland nicht zur Kapitulation zwingen. Es sei denn, man spekuliert auf einen Krieg, in dem die NATO und vor allem die USA direkt eingreifen. Mit unabsehbaren Konsequenzen.
Kein Krieg dauert ewig. Irgendwann werden die menschlichen Leiden zu bedeutend. Die Europäer, die mehr Kollateralschäden als die Amerikaner erleiden, sollten deshalb auf einen Waffenstillstand und auf Verhandlungen drängen. Ohne auf ihre Lieferungen zur Selbstverteidigung der Ukraine zu verzichten. Denn, wie Jean-Claude Juncker dazu trefflich sagt, darf es zu keinem „Diktatfrieden zu ausschließlich russischen Bedingungen“ kommen.
Was ist „gerechter Frieden“?
– Der Versailler Frieden nach dem ersten Weltkrieg war ein Diktatfrieden, der zum Zweiten Weltkrieg und zu unzähligen anderen Konflikten führte.
– Der Zweite Weltkrieg endete mit der totalen Niederlage des Deutschen Reiches und des Japanischen Kaiserreiches. Doch die Sieger, allen voran die USA, hatten damals die Intelligenz, die Besiegten nicht maßlos zu bestrafen. Machten sie zu neuen Partnern.
– Der Korea-Krieg endete mit einem blutig erkämpften Patt. Der Krieg der Amerikaner in Vietnam, wie nachher in Afghanistan, endete mit einem unrühmlichen Abzug. Wie der afghanische Krieg der Sowjetunion.
– Die verschiedenen Bürgerkriege in Ex-Jugoslawien, besonders um Serbien und Kosovo, endeten unter den Bomben der NATO. Ohne UN-Mandat. Sind noch immer nicht ausgestanden.
Wie kann der Krieg in der Ukraine enden? China hat nunmehr einen Zwölf-Punkte-Plan für eine politische Lösung vorgelegt. In den USA und in Westeuropa wird er nicht gerade mit Begeisterung empfangen.
Was eine falsche Reaktion ist. Wenn ein Staat einen effizienten Druck auf Putin ausüben kann, ist es China. China und Russland pflegen enge Beziehungen. Wurden eigentlich durch die verschiedenen US-Sanktionen dazu angehalten. Können die Europäer ein Interesse daran haben, dass die beiden größten Flächenstaaten des eurasischen Kontinentes sich unter dem Druck der Amerikaner verstärkt solidarisieren?
China hat Russlands Überfall auf die Ukraine nicht verurteilt. Ist dennoch offensichtlich nicht glücklich über das sich steigernde globale Konfliktpotenzial dieses Krieges.
Was in den zwölf Punkten durchschimmert: 1. Respekt der Souveränität und territorialen Integrität aller Länder. 2. Weg von der Kalten-Krieg-Mentalität. 3. Die Sicherheit jedes Landes kann nicht auf Kosten eines anderen gewährleistet werden. 4. Deshalb sind die Kriegshandlungen einzustellen und sollte es zu Verhandlungen kommen. 5. Zivilisten und Kriegsgefangene sind zu schützen. 6. Die humanitäre Krise ist zu beenden. 7. Kernkraftwerke müssen abgesichert werden. 8. Nukleare Waffen dürfen nicht eingesetzt und nukleare Kriege nicht geführt werden. Putin wird sich Letzteres hoffentlich merken.
Dass die Chinesen für freien Handel mit Lebensmitteln plädieren (9), für das Aufheben von Sanktionen (10), für die Stabilität der industriellen Versorgungsketten (11), für den Wiederaufbau der Ukraine (12) eintreten, ist kein rein chinesisches Interesse. Präsident Selenskyj hat die chinesische Initiative nicht abgelehnt. Will sich gar mit Präsident Xi Jinping treffen. Noch ist keine Morgenröte im Krieg angesagt. Doch sind diplomatische Gespräche blutigen Waffengängen vorzuziehen.
éierlech :
Robert Goebels, dat do ass dat Bescht, wat bis elo geschriwwe gouf. Chapeau fiir de Courage mol eng Kéier dat Ganzt vun enger aner Approche ze gesin oder Blëckwenkel..
de Chines ass usëch ee ganz intelligente Mënsch.. a dat hie vläicht doduerch könnt färdeg brengen, dat de Krich könnt op en Enn kommen.
Nëmmen, ët muss Een dat och definitiv wëllen, well
"wo kein Wille, da kein Himmelreich"
ganz kloer, misste mër dat och esou gesin, dat wär schons ee grousse Schrët viiraus, mat Schléi brengst de den Iesel nët zum viiru goën..
a mat ëmmer mëi Waffen, kriss de kee Fridden
vläicht brengt dësen Artikel ët färdeg, dat mol eng aaner Visioun entsteet..
Merci RG
Das Misstrauen gegenüber Chinas Friedensplan beruht darauf, dass sie den zweiten vor den ersten Schritt gehen. Erst wenn China den Überfall auf die Ukraine eindeutig verurteilt, erfüllen sie die Vorrausetzungen einen Friedensplan vorzuschlagen.
All Respekt, gutt kommentéiert, Här Goebbels!
Danke Herr Goebbels!
Dank an Herrn Goebbels für die Horizonterweiterung. Und danke für die Erläuterungen zum Vorschlag Chinas. Das gefällt mir wesentlich besser als die Herangehensweise, ihn gleich ungelesen 'in die Pfanne zu hauen'.
Wenn Russland irgendeinen Gewinn aus seinem Überfall zieht wäre bewiesen, dass Krieg sich lohnt, dass Grenzen straflos militärisch verschoben weden können und eingedenk des von Russland gebrochenen Budaoester Abkommens, dass man nach Atomwaffen streben und sie unter keinen Umständen abgeben sollte. Iran beobachtet sehr genau, dass A-Waffen eine Lebensversicherung für Unterdrücker sind. Es gibt nichts mit Russland zu verhandeln solange das Verbrecher-Regime am Ruder ist weil es bewiesen hat, dass es keine Abkommen einhält.
@ Romain C.
Genau DAS ist das Wunschziel des kleinen Schauspielers.
Und Stoltenberg verspricht dem kleinen Schauspieler den Nato-Beitritt! Will man wirklich den Weg in einen Krieg der Nato -Verbündeten gegen Russland gehen? Welch ein Irrsinn!