Seit knapp zwanzig Jahren befinden sich die Geschichtswissenschaften in einer ernsten Krise. Die Tausende Jahre vor Stonehenge entstandenen Tempelanlagen von Göpekli Tepe sowie DNA-Untersuchungen, mit denen neuerdings die ungeheure Mobilität von Steinzeitmenschen nachgewiesen werden konnte, müssen als Schlagworte reichen, um die Herausforderungen zu umreißen, denen sich Historiker aktuell stellen müssen. Thomas Koppenhagen über das viel diskutierte Buch von David Graeber und David Wengrow, die einen Neubeginn versuchen.
Politisch betrachtet sind die Autoren dem linken, ggf. auch anarchistischen Spektrum zuzurechnen. Immer wieder kommen sie in ihrem Buch „Anfänge: Eine neue Geschichte der Menschheit“ auf den Ausgangspunkt ihrer Untersuchung zu sprechen. Dass wir uns entwicklungsgeschichtlich nämlich in eine Sackgasse hineinmanövriert hätten, und dass uns die Geschichte womöglich Auswege aus der selbstzerstörerischen Falle weisen könnte. Das Buch ist sehr weitläufig angelegt, etwaige Folgepublikationen sind aber durch den viel zu frühen Tod von David Graeber nicht mehr zu erwarten.
Gehörige Sprengkraft liefert das Autoren-Duo mit seiner zentralen These, wonach die französische Aufklärung ihren Freiheits- respektive Gleichheitsbegriff aus der Neuen Welt importiert hätte. Ja, dass die Ureinwohner Amerikas längst schon ihre Revolutionen hinter sich gebracht, ihre Gewaltherrscher davongejagt und vielgestaltige Alternativen entwickelt hätten, um in deutlich freieren Gesellschaften leben zu können wie beispielsweise die Franzosen unter der absolutistischen Monarchie eines Ludwig XV. (1710-1774). Für diese komplette Umkehrung eines immer noch die Geschichtswissenschaften dominierenden, auf hierarchische Machtverhältnisse fußenden Fortschrittsglaubens verwenden Graeber/Wengrow beispielsweise auch Augenzeugenberichte als Primärquellen, die bislang kaum von Historikern ernst genommen wurden – eben weil sie den gängigen Mustern von Geschichtsschreibung radikal zuwiderlaufen.
Wenn wir diesen Zeitdokumenten von Missionaren, Glücksrittern oder Diplomaten Glauben schenken wollen, erwarteten die ersten französischen Einwanderer an der Ostküste Nordamerikas keine tumben Rothäute, denen man mit ein paar Glasperlen ihren gesamten Grund und Boden abluchsen konnte, sondern ausgesprochen intellektuelle Gesprächspartner und geschickte Verhandlungsführer mit einer ganz eigenen Agenda. Dass die Huronen, Irokesen und andere Stämme in der Region letztendlich nahezu ausgerottet wurden, täuscht als Faktum über die Entwicklung, die die Besiedlung Nordamerikas mit Europäern über zweihundert Jahre davor genommen hatte. Allein, dass die Autoren uns diese keineswegs als bloße Übergangszeit aufzufassende Periode näherbringen, reicht aus, um das Buch zu empfehlen. Dass David Graeber und David Wengrow sich zudem anschicken, die in der Geschichtsschreibung übliche eurozentristische Sichtweise aufzubrechen, macht „Anfänge: Eine neue Geschichte der Menschheit“ zu einem überraschenden Lesegenuss. Kostprobe: „Im Mittelalter hielten die meisten Menschen in anderen Teilen der Welt, die überhaupt etwas über Nordeuropa wussten, dieses für ein obskures und ungastliches Hinterland voller religiöser Fanatiker, die, abgesehen von gelegentlichen Angriffen auf die Nachbarn (die ‚Kreuzzüge’), für den globalen Handel und die Weltpolitik größtenteils irrelevant waren.“ Auch hier wird die Umkehrung von Sichtweisen und Lehrmeinungen sichtbar, welche die Autoren methodisch anwenden, um zu anderen als den bereits bekannten und von ihnen als „Mythen“ abgelehnten historischen Erkenntnissen zu gelangen. Geschichte folgt keiner höheren Gesetzmäßigkeit, Entwicklungen sind umkehrbar. Für diesen erkenntnistheoretischen Ansatz liefern Graeber/Wengrow ausreichend Anschauungsmaterial. Man muss es nur sehen wollen.
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