Die Apostrophe. Als Stilmittel nutzt der Dichter oder die Dichterin sie, um sich ausdrücklich an ein zweites Gegenüber zu wenden, das mit dem Leser oder der Leserin nicht identisch ist. Sein Gedicht „Ach Issa“, dessen Titel schon mit der rhetorischen Figur in eins fällt, lässt Ulrich Koch eindrücklich mit der Apostrophe beginnen: „Ach Issa, der Frühling ist da.“ Besonders gelungen erscheint dieser Einstieg, weil die Apostrophe hier nicht als pathetischer Ausdruck innerer Aufruhr genutzt wird (seinerseits oft noch lautlich hervorgehoben durch ein „O“), sondern, im Gegenteil, als dahingeseufzte, fast gehauchte Anrede einen Zustand tiefster Melancholie offenbart. Eine solche Exposition schafft Spannung, da der leidvoll-zarte Jammerlaut „Ach“, hier verknüpft mit der direkten Zuwendung an eine weiblichen Person, im Kontrast steht zur festgestellten Ankunft des Frühjahrs, allgemein verstanden als eine Zeit des Aufbruchs und des hoffnungsvollen Neuanfangs.
Im „Compendium Rhetoricum: Die wichtigsten Stilmittel – Eine Auswahl“ von Hans Baumgarten wird die Apostrophe wie folgt definiert: „Nicht anwesende Personen oder Sachen werden wie anwesend direkt angesprochen. Es ist eine Abwendung (Apostrophe) von den eigentlich angeredeten Hörern.“ Der Dichter oder die Dichterin nutzt also die Apostrophe, wie der Magier oder die Magierin eine Zauberformel nutzt, um Abwesendes beziehungsweise Imaginiertes herbeizubeschwören und damit zu vergegenwärtigen. Dennoch, man möchte es kaum glauben, gestaltet sich die Sache etwas schwieriger als im Bereich der Hexerei. Denn durch die explizite Benennung von Person oder Sache ist diese plötzlich präsent, nimmt Gestalt an im Geist der eigentlich, wirklich Anwesenden, des Rezipienten oder der Rezipientin, und doch bleibt sie, das setzt die rhetorische Figur voraus, dem Sprechenden auf gewisse Weise fern. Um es noch einmal mit anderen Worten zu sagen: Durch die Apostrophe wird jemand oder etwas herbeigerufen, wodurch er oder es erstmals in Existenz tritt für das lesende Publikum; gleichzeitig jedoch bleibt der oder das Angerufene für den Redner oder die Rednerin abwesend. Die Apostrophe vereinigt somit Gegensätze in sich, die auf den ersten Blick schier unvereinbar erscheinen.
Der Dichter oder die Dichterin nutzt also die Apostrophe, wie der Magier oder die Magierin eine Zauberformel nutzt, um Abwesendes beziehungsweise Imaginiertes herbeizubeschwören und damit zu vergegenwärtigen
Platzhalter für das Eigentliche
„Was für ein Stilmittel“, möchte man nun vielleicht begeistert ausrufen, und tatsächlich ist es so, dass der begrifflich eng mit der Apostrophe verschwisterte Apostroph ganz Ähnliches und damit nicht weniger Unglaubliches leistest. Denn als Satzzeichen macht er eine Elision kenntlich, indem er an die Stelle dessen tritt, was ausgelassen wird: „keineswegs zurückgenommen / übergriffig eingeschritten / oberg‘scheit eins draufgesetzt“(zitiert aus: „rhetorische strategie“ von Ewald Baringer, in: „Kinderstube der Fische. Gedichte“). Der Apostroph füllt also eine durch die Auslassung entstandene typografische und lautliche Leerstelle und betont sie gleichermaßen; er ist Platzhalter für das Eigentliche und hebt damit dessen Nicht-Vorhandensein hervor.
Wenn man die gerade zitierte Stelle genauer in Augenschein nimmt, fällt auf, dass gerade diese widersprüchliche Doppelfunktion des Apostrophs dem Ende des Gedichts besonderes Gewicht verleiht. Denn durch den Apostroph wird die Mitte des Adverb „oberg‘scheit“ synkopisch zusammengezogen und ein Zisch-Laut entsteht, der den lässig-barschen umgangssprachlichen Charakter des Wortes betont, womit wiederum eine ironisch-distanzierte Haltung zum beschriebenen Inhalt markiert wird. Der Apostroph ersetzt das unbetonte „e“ und fungiert zugleich als das Fähnchen, das den Schwund desselben kennzeichnet; es beweist, dass der Autor bzw. das lyrische Ich in seiner Ausdrucksweise eine bewusste Wahl getroffen hat und – daran lässt die beschriebene Wirkung dieses Apostrophs keinen Zweifel – sich von der geschilderten „rhetorische[n] strategie“ abgrenzt. Um es noch einmal anders zu formulieren: Das im Zentrum des Worts angesiedelte unbetonte „e“ wird weder ausgeschrieben noch sollte es im Vortrag prononciert werden; es ist getilgt und fällt als willentlich ausgeklammertes Element zugleich ins Auge. Ein kleiner wie wirkungsvoller Kunstgriff, der der allgemeinen Aussage des Gedichts dienlich ist.
Kommen wir zum Ende: Apostrophe und Apostroph machen in ihrer Ambivalenz wunderbar deutlich, dass etwas zur gleichen Zeit da und nicht da sein kann. Ja, sie machen das Unmögliche möglich und vollbringen damit im Kleinen das Wunder, das die Literatur und die Sprache an sich auf einzigartige Weise zu schaffen imstande sind. Ein Hoch auf dich, Apostrophe, Kleinod aus dem dichterischen Werkzeugkasten, und dich, Apostroph, umgekehrte Träne, schwebender Splitter oder Haken, mich hast du gepackt!
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