Schock, Ekel, Demütigung: Wie sich die Kritikerin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach dem Angriff in der deutschen Stadt Hannover gefühlt haben dürfte, mag man sich kaum ausmalen. Am Rande einer Premiere hatte der Ballettdirektor des Staatstheaters Hannover, Marco Goecke, die Journalistin Wiebke Hüster am Samstagabend auf ihre Texte angesprochen und mit Hundekot beschmiert. Anlass war wohl Frust über eine frühere Kritik. Am Montag teilte das Staatstheater mit, dass Goecke suspendiert worden sei und bis auf Weiteres Hausverbot habe.
Bei der FAZ löste der Angriff Entrüstung aus. Am Montag hieß es in einem Artikel: „Der Vorfall löst auf erschreckend tätliche Weise ein, was in Kunstkreisen inzwischen offenbar häufig über Kritik und Kritiker gedacht und gesagt wird.“ Goeckes Grenzüberschreitung offenbare „das gestörte Verhältnis eines Kunstschaffenden zur Kritik“.
Ist das Verhältnis zwischen Kunstkritiker und Künstler zerrüttet? Handelt es sich bei dem Vorfall in Hannover um die schlimme Grenzüberschreitung eines Einzelnen – oder greift inzwischen eine Herabwürdigung von Kunstkritik um sich?
Es gebe einen deutlichen Rückzug und auch Bedeutungsverlust professioneller Kunstkritik in Massenmedien, sagte Jan Lazardzig, Professor für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin, am Montag der Deutschen Presse-Agentur. Dennoch spielten im Kampf um das Publikum Theaterkritiken nach wie vor eine wichtige Rolle. Goecke hatte der FAZkj-Kritikerin vorgeworfen, wegen ihrer Kritiken seien in Hannover Ballett-Abonnements gekündigt worden.
Hört man sich in der Branche um, ist bei aller Kritik übereinstimmend von einem Einzelfall die Rede. Hendrik Zörner, Pressesprecher des Deutschen Journalisten-Verbands, sagte der dpa: „Ein solcher Fall ist bisher einmalig.“ Ähnlich äußerte sich der Präsident des Deutschen Bühnenvereins, Carsten Brosda. „Der Vorfall in Hannover ist schlimm und in keiner Weise zu tolerieren“, sagte der Hamburger Kultursenator der dpa. „Der Vorfall in Hannover ist aber aus meiner Sicht ein unfassbarer Einzelfall.“ Kritische Berichterstattung könne die Debatte über das Theater vorantreiben. Er höre in jüngster Zeit aus den Theatern sogar eher die Sorge, dass es immer weniger Kritiker in den Redaktionen gebe, weil die Flächen für Kulturberichterstattung kleiner würden.
Hüster hatte der dpa am Sonntag gesagt: „Als ich gespürt habe, was er gemacht hat, habe ich geschrien.“ Die Journalistin verließ am Samstag die Premiere des Ballettabends „Glaube – Liebe – Hoffnung“ und erstattete Anzeige bei der Polizei. Goecke selbst war auch am Montag nicht für eine Stellungnahme zu erreichen. Der 50-jährige gebürtige Wuppertaler hat internationales Renommee und wurde für seine Produktionen vielfach ausgezeichnet, zuletzt 2022 mit dem Deutschen Tanzpreis. Der stets mit Sonnenbrille auftretende Choreograf hat seinen Dackel Gustav auch im Opernhaus in Hannover oft in einer Tasche dabei.
Gegen den Beschuldigten seien Ermittlungen wegen Körperverletzung und Beleidigung eingeleitet worden, teilte die Polizeidirektion Hannover am Montag mit. Das Staatstheater Hannover hatte den Vorfall schon am Wochenende bestätigt, sich bei Hüster entschuldigt und mitgeteilt, dass „arbeitsrechtliche Schritte“ geprüft würden. Am Montag folgte dann die Suspendierung.
Schon seit längerem wird beklagt, dass Respekt gegenüber Journalisten in Teilen der Gesellschaft schwindet. Gewalttätige Angriffe nehmen laut dem Deutschen Journalisten-Verband (DJV) zu – allerdings wurde dies zuletzt vor allem bei Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen beobachtet, nicht aber an Theatern oder anderen Kulturinstitutionen. Für derartige Vorfälle muss man weit zurückblicken. Im Jahr 2006 etwa hatte ein Schauspieler während einer Vorstellung am Schauspiel Frankfurt einen FAZ-Kritiker beschimpft und ihm den Notizblock entrissen. Der Schauspieler wurde aufgrund des Vorfalls entlassen.
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