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StandpunktDie nächste Globalisierung: Herausforderungen einer multipolaren Welt

Standpunkt / Die nächste Globalisierung: Herausforderungen einer multipolaren Welt
Entwicklungen bei der Telearbeit, erneuerbaren Energien und KI werden Länder zu neuen Netzwerken der Interdependenz verknüpfen Foto: Pixabay

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Erlebt die Globalisierung eine Wiederauferstehung? Das war die große Frage beim Jahrestreffen des Weltwirtschaftsforums in Davos, auf dem der Gründer des Forums, Klaus Schwab, zur Diskussion stellte, ob Zusammenarbeit in Zeiten der Fragmentierung überhaupt noch möglich ist.

* Zum Autor

Mark Leonard ist Direktor des European Council on Foreign Relations. Seine neueste Veröffentlichung ist „The Age of Unpeace: How Connectivity Causes Conflict“ (Bantam Press, 2021).

Seit zehn Jahren wird auf diesem Forum über den unausweichlichen Untergang des „Homo Davosiensis“ gesprochen, des prototypischen globalen Unternehmers und Kosmopoliten. Als Gründe für sein Aussterben werden unter anderem die Finanzkrise von 2008, der Brexit, die Wahl von Donald Trump, kriselnde Demokratien in aller Welt, Covid-19 und der russische Angriff auf die Ukraine genannt und als Zeichen dafür gesehen, dass die Globalisierung zu weit gegangen ist und nun zurückgedreht werden muss.

Beim diesjährigen Treffen war die Stimmung allerdings etwas optimistischer. Trotz aller Sorgen um militärische und wirtschaftliche Konflikte scheint es der Welt etwas besser zu gehen, als die globalen Eliten bei ihrem Treffen im Mai letzten Jahres erwartet hatten. Die Ukrainer stellen sich den russischen Invasoren mutig entgegen, der Westen steht geschlossen hinter ihnen, in Europa sind auch im Winter die Lichter nicht ausgegangen und manche glauben sogar, dass wir eine Rezession noch vermeiden können.

Neue Verknüpfungen

Diesen wichtigen kurzfristigen Entwicklungen liegt eine tiefer gehende Wende zugrunde, eine neue Form der Globalisierung, die sich von ihren Vorgängern stark unterscheidet. Während bei der Globalisierung von Gütern der Höhepunkt überschritten zu sein scheint, nimmt dank der Revolution der Telearbeit während der Pandemie die Globalisierung von Dienstleistungen weiter zu.

Und auch die Energiewende nimmt, zum Teil wegen des Krieges in der Ukraine, weiter an Fahrt auf. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Bundeskanzler Olaf Scholz sagen vorher, dass der großflächige Umstieg auf erneuerbare Energien und Wasserstoff genauso umwälzend sein wird wie die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts. Fortschritte bei der künstlichen Intelligenz eröffnen völlig neue Möglichkeiten. Andererseits geben sie der Konkurrenz um knappe Mikrochips und alten Ängsten vor Arbeitslosigkeit und Amok laufenden Robotern neue Nahrung.

Entwicklungen in allen drei Bereichen – Telearbeit, Erneuerbare und KI – werden Länder zu neuen Netzwerken der Interdependenz verknüpfen. Denn, wie ein aktueller Bericht des McKinsey Global Institute zeigt, ist „keine Region auch nur annähernd autark“.

Die in Davos skizzierte Re-Globalisierung wird sich jedoch von früheren Versionen grundlegend unterscheiden. Erstens geht es beim neuen Modell um sämtliche Dimensionen der nationalen Sicherheit und nicht mehr wie beim alten Modell um Unternehmensprofite. Die Länder des Westens stilisieren den Krieg in der Ukraine zur Verteidigung der liberalen, auf Regeln gegründeten Ordnung gegen eine unilateralen Angriff durch Russland (und im weiteren Sinne China). Deshalb sind sie mit Eifer dabei, sich von Russland abzukoppeln und ihre wirtschaftlichen Beziehungen zu China zu überdenken. In Davos betonte die kanadische Finanzministerin Chrystia Freeland als eine von vielen Politikerinnen, wie wichtig es ist, künftig verstärkt mit befreundeten Ländern zu handeln.

Finanzsystem als globales Kollektivgut

Für viele nichtwestliche Länder dagegen sind Europa und Amerika ebenso sehr für die Störung der globalen Ordnung verantwortlich wie Russland und China – mit enormen Auswirkungen auf ihre eigene Sicherheit und ihren Wohlstand. Aus ihrer Perspektive hat der Westen diesen Krieg (durch das ehrgeizigste und weitreichendste Sanktionspaket der Geschichte) zu einem Wirtschaftskonflikt gemacht, unter dem nun Milliarden Menschen leiden.

In den glücklichen Tagen von Davos galt das dollarbasierte Finanzsystem als globales Kollektivgut, durch das Wohlstand in die entlegensten Winkel der Welt gelangt. Inzwischen verstehen es immer mehr Kritiker als Keule, mit der Amerika seine ideologischen und strategischen Ziele durchsetzt. Die Sanktionen gegen Russland folgen dem gleichen Muster, mit dem die Politik des Westens den „Krieg gegen den Terror“ geführt und versucht hat, die Atomwaffenprogramme im Iran und in Nordkorea zu behindern.

Wie die französische Bank BNP Paribas 2014 erfahren hat, als sie wegen Verstößen gegen die US-Sanktionen eine Geldstrafe von über acht Milliarden US-Dollar zahlen musste, ähnelt diese Politik inzwischen einem globalen Schleppnetz, dessen Wirksamkeit auf der Politisierung globaler Systeme beruht, die früher (wenn auch nicht tatsächlich, so doch prinzipiell) als neutral galten.

Seit der Geist aus der Flasche ist, politisieren aber auch andere Akteure das globale System aus Regeln und Normen. So prüft die Europäische Union neue CO₂-Zertifikate für Importwaren und hat bereits Maßnahmen ergriffen, die verhindern, dass die Daten ihrer Bürger außerhalb ihrer Grenzen gespeichert werden.

Und auch die USA gehen in die Vollen und verbieten inzwischen pauschal den Verkauf von strategisch wichtigen Technologien nach China. Das Ergebnis ist nicht einfach eine Balkanisierung des Wissens. Alle Länder werden nun verstärkt versuchen, Abhängigkeiten zu vermeiden oder abzubauen.

Tiefe Spaltungen

Womöglich noch folgenreicher ist ein anderer Trend, der das nächste Zeitalter der Globalisierung prägen wird. Die ersten beiden Wellen der Globalisierung gingen von Großbritannien bzw. Amerika aus. Die neue Welle wird multipolar und damit auch multi-ideologisch sein. China hat nicht nur seinen wirtschaftlichen Rückstand gegenüber Amerika aufgeholt, sondern die USA in den meisten Ländern der Welt inzwischen als größten Handelspartner abgelöst. Dadurch haben sich die wirtschaftlichen Machtverhältnisse grundlegend verschoben.

Diese neue Dynamik lässt befürchten, dass die Welt künftig nicht nur entlang nationaler Grenzen, sondern auch entlang unterschiedlicher Ordnungsvorstellungen gespalten sein wird. Ein perfektes Beispiel dieses Effekts zeigte sich in Davos, als der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die Welt in einer Videobotschaft bat, ihn im Widerstand gegen Russlands grundlosen Angriff zu unterstützen. Während ihm die eine Hälfte der Zuhörer enthusiastisch applaudierte, blieb die andere Hälfte scheinbar unberührt. Obgleich viele mit der Ukraine sympathisieren, fürchten sie doch, der Konflikt könne die Welt in einen Kalten Krieg 2.0 führen, der die Welt in Demokratien und Autokratien unterteilt.

Das ist das Letzte, was die meisten Spitzenpolitiker wollen. Unter vier Augen beklagen die Staats- und Regierungschefs aus Afrika, dem Nahen Osten und Lateinamerika, ihre Länder hätten schon durch den ersten Kalten Krieg einen Teil ihrer Souveränität und Kontrolle verloren. Für sie ist die Aussicht, sich schon wieder für eine Seite entscheiden zu müssen, wenig attraktiv.

Selbst Amerikas Verbündete wollen nicht noch einmal vor diese Wahl gestellt werden. Ich sprach mit einem japanischen Konzernchef, der zwar wegen der aktuellen Außenpolitik Chinas besorgt ist, eine Entkopplung von China aber vehement ablehnt. Und in seiner eigenen Rede auf der Konferenz erklärte Scholz, die Welt werde im Jahr 2045 nicht bipolar, sondern multipolar sein.

Letzten Endes wird Schwab mit seiner Hoffnung auf Zusammenarbeit in unserer fragmentierten Zeit womöglich recht behalten. Aber wir sollten darauf gefasst sein, dass die nächste Globalisierung völlig anders aussehen wird als die letzte.

© Project Syndicate, 2023