„Die Frontlinie ist extrem volatil geworden“, sagt Wladimir Rogow, der russische Besatzungschef der Oblast Saporischschja. Rogow ist Herr über einen Küstenstreifen im Süden des ostukrainischen Gebiets am Asow-Meer und über zwei von drei Großstädten. Doch die große Gebietshauptstadt Saporischschja trotzt den Russen standhaft seit Ende Februar. Das soll sich nun ändern: Moskau hat am Samstag eine russische Großoffensive Richtung Norden und Nordosten angekündigt.
Der ukrainische Generalstab bestätigte diese neue Entwicklung im Ukraine-Krieg in der Nacht zum Sonntag. Entlang der rund 200 Kilometer langen Frontlinie westlich des Donbass wurden am Sonntagmittag elf Ortschaften angegriffen, darunter die kleineren ukrainischen Städte Orachiw und Hulaj-Pole. Noch immer harren in der Gegend viele Zivilisten, meist ohne Strom und Heizung, aus. Opferzahlen waren bis Sonntagabend noch keine bekannt.
Nachschublinien als Ziel
Die neue volatile Frontlinie befindet sich im Norden der von Russland bereits Ende Februar eroberten Landverbindung zwischen der pro-russischen „Volksrepublik Donezk“, die inzwischen in Russland einverleibt wurde, und der bereits 2014 von Russland völkerrechtswidrig annektierten ukrainischen Halbinsel Krim. Sie erstreckt sich über rund 180 Kilometer vom Ufer des Flusses Dnipro rund 30 Kilometer südlich der 750.000-Einwohner-Stadt Saporischschja bis an die Grenze der Oblast Donezk bei Kurachowe. Von dort sind es noch rund 50 Kilometer bis zur Separatisten-Hochburg Donezk, vor der De-facto-Abspaltung von Kiew im Sommer 2014 eine Millionenstadt. Rund um Donezk wird schon lang heftig gekämpft, nun aber will Russland offenbar vom Dnipro-Ufer von Süden her den noch von Kiew kontrollierten Nord-Donbass umzingeln. Die Städte Bachmut (früher: Artemiwsk), Awdijewka, Kramatorsk und Slowjansk würden damit vom ukrainischen Nachschub abgeschnitten.
Noch war am Sonntag unklar, ob die russische Armee wirklich über genügend Truppen und Panzer für so eine Großaktion verfügt. Bisher gerieten eher die beiden Städte Melitopol und Berdjansk auf der russisch kontrollierten Landzunge unter Druck der ukrainischen Armee. In beiden rund 150.000-Einwohner-Zentren kommt es immer wieder zu Explosionen. Bei Melitopol sollen zudem ukrainische Partisanen die Gegend unsicher machen. Doch auch über deren Stärke kursieren mehr Gerüchte als gesicherte Erkenntnisse. Vor allem Großbritannien hatte die Ukrainer dazu ermuntert, nach der Rückeroberung von Cherson auch diese russisch besetzte Landverbindung auf die Krim und Mariupol zu erobern. Doch der Dnipro mit seinen von den russischen Besatzern kurz vor dem Abzug gesprengten Brücken stellt offenbar für die ukrainische Armee ein zu großes Hindernis dar. Am Sonntag griff sie immerhin wieder einmal die nach wie vor russisch besetzte Kleinstadt Oleschki am Ostufer des Dnipro an, rund zehn Kilometer südlich von Cherson. Von dort aus beschießt die russische Armee fast täglich Cherson, wobei es immer wieder zu zivilen Opfern kommt.
Die heftigsten Kämpfe gab es am Sonntag jedoch rund um die rund 80 Kilometer östlich von Saporischschja gelegenen, weiterhin von Kiew kontrollierten Verkehrsknotenpunkte Orachiw, Polohi und Hulaj-Pole. Durch Hulaj-Pole führt die wichtige Landstraße zwischen Melitopol und Donezk. Am Sonntagabend sah es danach aus, als hätten Russlands Invasionstruppen südlich von Hulaj-Pole mehrere Quadratkilometer Gelände rund um den Militärflugplatz Mirnoje erobert. Bereits vor gut 100 Jahren war es in dem flachen Steppengebiet zu heftigen Kämpfen zwischen der russischen Roten Armee und der Aufständischen-Armee des ukrainischen Anarchisten Nestor Machno gekommen. Diese fast vergessene Episode des Moskauer Imperialismus gegen die Ukraine wird nun aktuell von der russischen Armee wieder zurück ins Kiewer und vielleicht gar westliche Bewusstsein gebombt.
Jahrelanger Krieg?
Der britische Geheimdienst hatte am Sonntagmorgen in seinem täglichen Lagebericht davon gewarnt, dass sich der Kreml offenbar auf einen jahrelangen Krieg mit der Ukraine und dem Westen einstellt. Begründet wurde dies mit der Ankündigung des russischen Verteidigungsministers Sergej Schojgu, die russische Heeresstärke bis 2026 um 1,5 Millionen Soldaten ausbauen zu wollen. Vor allem sollen auch neue Truppen in Karelien stationiert werden, jenem Landstrich an der heutigen Grenze zum baldigen NATO-Neumitglied Finnland, das die Sowjetunion nach dem Winterkrieg von 1939/40 annektiert hatte. (Flü.)
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