Noch nie sind so viele Menschen vor Krieg geflohen wie heute. Allein acht Millionen Ukrainer wurden nach Europa vertrieben. Nimmt man alle Konflikte zusammen, sind derzeit 103 Millionen gewaltsam vertriebene Menschen auf der Flucht. Gemäß UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR handelt es sich um die schlimmste Vertreibungskrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Sollte die russische Invasion anhalten, könnten bis zu zehn Millionen Ukrainer in Europa als Flüchtlinge oder in der Ukraine als intern Vertriebene leben.
Während der Winter einbricht und der russische Angriffskrieg Europas Energieversorgung auf die Probe stellt, wird parallel eine soziale Krise gemeistert: Wie können Geflüchtete langfristig in unsere Gesellschaften integriert werden? Welche Aufnahmekapazitäten bestehen? Und was wird im Zuge der systematischen Bombardements Russlands noch auf uns zukommen?
Der Krieg und die internationalen Sanktionen haben zu einer höheren Inflation geführt und die Immobilienpreise zum Negativen beeinflusst. Was zwischen Luxemburgern bereits zu starken ökonomischen Ungleichheiten führt, kann Flüchtlinge in soziale und finanzielle Existenzängste treiben. Ein konkretes Beispiel hierfür sind die ukrainischen Flüchtlinge Anna und Denis. Sie sind im März 2022 nach Luxemburg geflohen und nahmen ab Oktober die Suche nach einer Wohnung auf. Es brauchte mehr als 100 Bewerbungen, bis sich ein Vermieter in Sanem fand, der das Paar bei sich aufnahm – samt beiden Kindern, zwei Hunden und zwei Großmüttern.
Wir sehen glücklich aus, aber wir merken, dass wir traumatisiert sind. (…) Ich kann mir nicht vorstellen, was die Menschen in der Ukraine durchmachen.
„Wir sehen glücklich aus, aber wir merken, dass wir traumatisiert sind. (…) Ich kann mir nicht vorstellen, was die Menschen in der Ukraine durchmachen. Wir haben Verwandte und Freunde, mit denen wir ständig in Kontakt sind, aber wir können nicht fühlen, was sie fühlen“, erzählt Denis Semianystyi. Er arbeitet heute als Techniker bei einem Luxemburger Gastronomieunternehmen, das Restaurants betreibt. Er hat Glück im Unglück. Denis hat, ähnlich wie viele Wirtschaftsflüchtlinge, einen Arbeitsplatz erhalten, für den sich eher wenige Luxemburger hergeben. Eine vergleichbare Tendenz ist bereits vor acht Jahren im Zuge der syrischen Flüchtlingsbewegung nach Luxemburg beobachtbar gewesen. Obschon die Niedriglohnkonkurrenz durch die neuen Mitmenschen zunimmt, bleibt die ökonomische Realität die gleiche: Migration und Arbeitsmarktentwicklung sind in Luxemburg fest miteinander verwoben. Zu dieser Schlussfolgerung kommt unter anderem die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in ihrem Bericht „Le fonctionnement du système d’intégration et ses acteurs au Grand-Duché de Luxembourg“.
„Wir haben vergangenen März unsere Dokumente erhalten. Das war nicht nur für uns eine neue Situation, sondern für alle Staaten“, erzählt Denis. Tatsächlich wurde im Zuge der russischen Invasion eine historische Entscheidung auf EU-Ebene getroffen. Kriegsflüchtlingen wurde vorübergehender Schutz in der Europäischen Union gewährt, sprich unverzüglich eine Aufenthaltserlaubnis sowie Zugang zum Arbeitsmarkt und zur Bildung. Der Haken: Das Ganze war auf ein Jahr begrenzt und läuft diesen März aus. „Wenn man als Flüchtling den vorübergehenden Schutz beantragt hat, lebt man, ohne zu wissen, was mit einem im nächsten Jahr passiert“, erzählt Anna Semianysta. Es sei „hart“ und „stressig“, aber der ganze Prozess benötige Zeit.
Von den etwa acht Millionen Ukrainern auf der Flucht haben rund fünf Millionen Menschen vorübergehenden Schutz in Europa beantragt. Wer nicht wie Anna und Denis früh nach Job und Unterkunft sucht, ist spätestens ab März ohne langfristige Perspektive. „Wir konnten glücklicherweise ein wenig Geld sparen, um darauf vorbereitet zu sein, umzuziehen“, sagt Anna. Ihre Familie lebte zunächst im Privathaus einer Luxemburger Hilfsorganisation. Anna arbeitet jetzt als Mediatorin an der International School in Differdingen: „Ich glaube, dass ich sehr viel Glück habe. Mein Sohn ist an der gleichen Schule. Ich kann ihm helfen.“ Nebenbei nahm die Familie noch einen Jungen aus den besetzten Gebieten aus der Ukraine bei sich auf. Er lebte ein halbes Jahr bei der Flüchtlingsfamilie, heute studiert er an der Uni Luxemburg.
Abschreckung und Erpressung
Doch nicht alles verläuft wie im Bilderbuch. Der älteste Sohn will nicht in den Kindergarten, er spricht nicht. „Das war eine absolute Belastung für die ganze Familie. Wir sollten eine Lösung finden, wo er hin soll, damit er zumindest ein, zwei Stunden beschäftigt ist“, erinnert sich Denis. Das Problem sei inzwischen gelöst. „Anna ist immer eine Lehrerin, auch zu Hause. Wenn das Kind seine Mutter braucht, ist sie da“, schmunzelt der stolze Vater. Sein jüngster Sohn müsse hingegen nur vor der Tür abgesetzt werden: „Er geht direkt zur Schule.“ Kriegsflüchtlinge und ihre Familien erleben diese Traumata im Gegensatz zu Wirtschaftsflüchtlingen häufiger: Sie sind weniger auf die sprachlichen Barrieren vorbereitet, sind oft auf Privatinitiativen angewiesen und können meist nur auf eine Rückkehr in ihre Heimat hoffen.
Der aktuelle Kriegsverlauf erlaubt nur wenigen Menschen, die Heimreise anzutreten. Inzwischen werden Stadtzentren und das Stromnetz in der Ukraine systematisch angegriffen. Hinzu kommt Putins anhaltende Nuklearrhetorik, die mehrere Ziele verfolgt – Abschreckung und Erpressung. Einerseits sollen eine direkte westliche Intervention und die militärische Aufrüstung der Ukraine verhindert werden, andererseits sollen die Zivilisten weiter verunsichert und massive Flüchtlingsströme losgetreten werden. Gleichzeitig legt nur wenig nahe, dass der Kreml bei einer weiteren Eskalation nuklear reagieren würde. Dafür werden umso mehr im Landesinneren Dissidenten unterdrückt, Aktivisten mundtot gemacht und non-konforme Ansichten mit harter roter Hand bekämpft. Diese Radikalisierung zeigt sich umso mehr in der konventionellen Kriegsführung der Russen: Wie in Syrien werden inzwischen in der Ukraine wahllos zivile Territorien bombardiert und Menschen gefoltert sowie willkürlich festgenommen. Die NGO Human Rights Watch spricht von „Verstößen gegen das Kriegsrecht“, wie zum Beispiel Zwangsverschleppungen und außergerichtliche Hinrichtungen in den von Russland besetzten Gebieten.
Vor diesem Hintergrund ist eine Rückkehr für die ukrainische Familie in Luxemburg undenkbar. Anna sieht ihre Zukunft nicht im Kriegsgebiet: „Wir wollen den Kindern Stabilität bieten. Es gibt ja spezielle Schulklassen für ukrainische Kinder. Mein Sohn ist in der englischsprachigen Sektion. Wir wollen das so beibehalten. Man fühlt, dass er die Sprache versteht.“ Was für die ukrainischen Flüchtlinge eine „Success Story“ ist, wird wiederum für andere Flüchtlinge eventuell zum Problem. So kommen Forscher des Luxembourg Institute of Socio-Economic Research (Liser), der Uni Luxemburg und des European Migration Network (EMN) zur Schlussfolgerung, dass die Fluchtbewegungen aus der Ukraine anderen Flüchtlinge das Leben erschweren könnten: „Der massive Zufluss an ukrainischen Flüchtlingen führt wahrscheinlich zu einer Reduktion des Levels an Ressourcen für Organisation, Wohnraum, Verwaltung und Finanzen, die anderen Flüchtlingen aus anderen Teilen der Welt zur Verfügung stehen.“
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