Die ironische Flucht in den Meta-Kommentar ist oft ein letztes pseudo-künstlerisches Aufjapsen. Nach Meta kommt meistens nichts mehr. Manchmal taucht aber ein Filmobjekt an die Oberfläche, das sich seines narrativen Dispositives sehr bewusst ist. Dieses wird mehr oder weniger weit aus dem Ärmel gezogen, zu keinem Augenblick aber wird der Eindruck erweckt, dass es ein Selbstzweck ist. Einer, auf Kosten seiner von Wind und Wetter und vor allem Leben gekerbter Figuren.
Die Hauptfigur in „Re Granchio“ („The Tale of King Crab“), dem Spielfilmdebüt der beiden italoamerikanischen Regisseure Alessio Rigo de Righi und Matteo Zoppis, ist ein zersaust vollbärtiger und schlaksiger Dorfsäufer namens Luciano (Gabriele Silli). Wenn er nicht gerade sturzbetrunken und seiner motorischen Fähigkeiten ohnmächtig irgendwo mit der Stirn gegen einen Tavernentisch knallt, weil der vino rosso ihm zu sehr geschmeckt hat, mäandert er wie eine Mischung aus Rimbaud und Sid Vicious durch die Gegend und versucht die Autorität des Prinzen zu unterwandern.
Ein Festungstor, welches jahrzehntelang geöffnet war, damit vor allem Hirten mit ihren Viehtruppen morgens und abends keine kilometerweiten Umwege gehen müssen, ist eines Tages – allem Anschein nach, weil dem Prinzen danach war – geschlossen. Luciano stößt die Willkürlichkeit dieser Entscheidung sauer hoch und tritt mit aller Kraft das Tor wieder auf. Ein Anarchist, wie er im italienischen Bilderbuch steht. Luciano ist aber auch verliebt. Emma heißt die Angebetete und ist die Tochter des Ziegenhirten. Letzterer ist von der Idee, dass seine Tochter vom besoffenen Dorftrottel umworben wird, nur mittelmäßig divertito. Ein tragischer Vorfall wird das Luciano-Problem sowieso lösen, denn kurze Zeit später sehen wir unseren Protagonisten an der Küste Patagoniens wieder. In culo al mondo. Für die einen ist es die Insigne für nachhaltige Kleidung, für die anderen ist es einfach nur der Arsch der Welt.
Stille Post
Dieser besagte Arsch ist ebenfalls der Titel des zweiten Filmkapitels. Übrigens taucht in dem zweiten Teil auch die titelgebende Königskrabbe auf. Der Spielfilm an sich wird aber nicht von den zwei Kapiteln zusammengehalten, sondern von alten Italienern – nein, auch nicht von den Regisseuren. Der narrative Rahmen ist einer, wie er eigentlich nur aus dem italienischen Kino herrühren kann. Mehr oder weniger alte Italiener treffen sich in einer Hütte und sitzen bei mittelmäßig bescheiden feuchtem Wetter bei einem warmen Teller Pasta, singen und erzählen sich Geschichten. Auch die Geschichte der viaggi di Luciano von vor 200 Jahren. Die Lucian-Figur ist zu einer Art Heiligen- bzw. Legendenfigur mutiert. Ob hie und da die Geschichte ausgeschmückt wurde, ist nicht ganz klar und letztendlich auch egal. Wenn über Generationen die gleiche Geschichte weitererzählt wird, ein organisches Stille-Post-Spiel entsteht, kommt hinten immer etwas anderes heraus, als was vorne begonnen hat. Sehr vulgarisiert ist in dem Spiel die Essenz der oral history. Erinnerung spielt dabei eine primordial wichtige Rolle. Es ist der von oral history durch den Wolf gezogene Erinnerungsprozess, und nicht die von Simone D’Arcangelo majestätisch, archaischen Bilder, der von den Regisseuren Rigo de Righi und Zoppis als stilistisches Hauptmittel hochgehalten wird.
Wenn es einen Selbstzweck in „The Tale of Crab King“ geben sollte, dann den des Geschichtenerzählens. Wie aus Dorfanarchist Luciano ein Priester wurde, der am untersten Zipfel Südamerikas mit einer Königskrabbe als Reiseführer und Piraten auf den Fersen einen ominösen Goldschatz finden soll, ist egal. Das Geschichtenerzählen triumphiert auf voller Länge: von Räubern und Piraten, von Crusoe zu Moby Dick und weiter zu Jack Sparrow. Seit Jahrhunderten erzählt man sich die gleichen Geschichten. Das Erhabene im Film der beiden Italiener lässt Terrence Malick und Werner Herzog sich gegenseitig zuzwinkern, aber eigentlich sind die beiden mit Pietro Marcello und Alice Rohrwacher – vor zwei Wochen haben wir an dieser Stelle ihren Kurzfilm „Le pupille“ auf Disney+ vorgestellt – verschwägert. Rohrwacher und die beiden teilen sich Maria Alexandra Lungu, die schon in „Le meraviglie“ die Hauptrolle innehatte. Dass die Rückkehr aufs Land des zeitgenössischen italienischen Kinos – eine von hauptsächlich römischen FilmemacherInnen gepflegte Tendenz – zu so einzigartigen Filmtexten führen würde, hätte vor 15 Jahren niemand geahnt. „The Tale of King Crab“ ist eine formal wie narrativ freie Erzählung, die aus der Quinzaine in Cannes auf MUBI gelandet ist und ganz nebenher einlädt, die Geschichte Lucianos und seiner Krabbe weiterzuerzählen.
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