Wenn er nicht herrisch das „R“ rollt, Feuersbrünste über die Bühne schickt, schier grenzenlose Obszönitäten ins Mikro singt, zu knallharten Sounds kompromisslos auf seine Schenkel hämmert, dann malt Till Lindemann vielleicht gerade, schreibt Gedichte, engagiert sich in der Ukraine-Hilfe oder ist fischen am einsamen See. Der Rammstein-Sänger ist vielschichtiger als sein skandalträchtiges Image. Am Mittwoch wird der Musiker 60 Jahre alt.
„Ich mag Interpretationen, weil die so unterschiedlich sein können. Die Zuhörer haben ihre eigene Wahrnehmung und Fantasie.“ Die Sätze aus dem jüngsten dpa-Gespräch bezieht Lindemann auf seine Texte. Es könnte auch um den Blick auf den Sänger selbst gehen. „Wenn ich über die wahren Hintergründe von allem sprechen würde, was ich singe, würde ich nur Schubladen schaffen. Ich glaube, es ist besser, das nicht zu tun und die Leute einfach zu ihrer eigenen Interpretation der Texte anzuregen.“
In seinen Versen und Liedtexten ist er mal Misanthrop, mal Minnesänger. Lindemann ist mit Literatur groß geworden. In Leipzig geboren, wächst er im Mecklenburg-Vorpommern der Vorwendezeit auf. Mit seiner Schwester lebt er zunächst bei der Mutter, der Journalistin Brigitte Lindemann, später für einige Zeit beim Vater, dem in der DDR bekannten Kinderbuchautor Werner Lindemann.
Salingers „Fänger im Roggen“ ist sein erster Roman, Bukowski liest er, weil der in der DDR als tabu galt. Lindemanns Verse sind auch eine Reise durch die Literaturgeschichte. In Gedichten und Liedtexten lassen sich Anlehnungen an Benn, Goethe, Schiller, die deutschen Romantiker oder die Brüder Grimm finden. Er greift Piaf auf („Frühling in Paris“), Brecht („Links 2 3 4“), Süskind („Du riechst so gut“).
Feuer Frei
Bis zur Wende führt Lindemann das geordnete Leben eines Korbmachers. Das lässt Platz für Kunst und Musik. Er spielt in der Punkband First Arsch, kurz für Erste Autonome Randalierer Schwerins. Dort sitzt er am Schlagzeug, singt mitunter, spielt gelegentlich Bass. In dieser Szene Ende der 80er begegnet er den späteren Rammstein-Musikern: Paul Landers und Richard Kruspe (Gitarre), Christian „Flake“ Lorenz (Keyboard), Oliver Riedel (Bass), Christoph Schneider (Schlagzeug).
Mit der Band kommt Feuer in sein Leben. „Das gehört klar zu Rammstein.“ Anfangs sind es einzelne Raketen von einem Freund, es folgen Experimente mit Benzin. Lindemann lässt sich zum Pyrotechniker ausbilden – auch, weil es immer wieder zu Verletzungen und Zwischenfällen kommt. Eine Rammstein-Show ist heute ein gigantisches Spektakel aus Explosionen, Feuer, Licht, Effekten und knallharter Musik. Die Kondition dafür sichert sich der ehemalige Leistungsschwimmer noch immer im Schwimmbecken.
Lindemann und Rammstein spielen mit Ambivalenzen. In Texten wird Sehnsucht zu Hass, Leid zu Liebe, immer wieder ist Gewalt in allen Formen im Spiel, die Übergänge sind fließend und Teil des Konzepts. Mehrdeutige Verse, martialische Musik, Riefenstahl-Optik führen zu Debatten um (zu) rechte Positionen. Lindemann verweist dazu auf die Sozialisation im Sozialismus und Prügeleien mit Rechtsextremen. Auf die Kritik folgt der ironisierende Song „Links 2 3 4“: „Sie wollen mein Herz am rechten Fleck doch / Seh ich dann nach unten weg da schlägt es links / links links links links zwo drei vier“.
Vorstellung beendet
Lindemanns Projekte überschreiten Genre-Grenzen: Er schreibt einen Song für Roland Kaiser („Ich weiß alles“), holt Heino zu Rammstein auf die Bühne („Sonne“), arbeitet mit Nina Hagen, Zaz, David Garrett, singt beim Militärmusikfestival auf dem Roten Platz in Moskau das Heldenlied „Lubimiy Gorod“ (Geliebte Stadt) in russischer Sprache. Zusammen mit dem schwedischen Multiinstrumentalisten Peter Tägtgren schreibt er Songs für „Hänsel & Gretel“ am Hamburger Thalia Theater.
Das Gedicht „Wenn du schläfst“ aus dem jüngsten Band „100 Gedichte“ löst 2020 eine Debatte über Vergewaltigungsfantasien, K.o.-Tropfen und Sex mit Schlafenden aus. Nicht nur Kritikerinnen interpretieren die Zeilen aus Täterperspektive als Relativierung krimineller Handlungen und Beschönigung sexueller Übergriffe. Sie nehmen Lindemann das von ihm häufig verwendete lyrische Ich nicht ab, also die Erzählform einer fiktiven Figur in der ersten Person Singular.
Ein sichtbarer Teil des sonst abgeschirmten Lindemann-Lebens mit früher Ehe und drei Kindern, Wohnung in Berlin und Dorfleben in Mecklenburg-Vorpommern dreht sich um Frauen. Altersabstand mit den Jahren zunehmend. Schwer zu sagen, ob seine „Ich will eure Titten sehen!“-Schreie ins Publikum oder die bei den Shows direkt am Bühnenrand im abgesperrten Bereich tanzenden, oft knapp bekleideten Frauen Klischees nur befördern sollen oder gelebte Schlichtheit sind.
Was für Theater spricht: Lindemann sieht seine Auftritte wie inszenierte Opern. Er hat Angst, sich zu versingen. Was vorkommt. Alles läuft nach minuziösem Plan, muss es auch angesichts des gefährlichen Feuerzaubers. Lindemann redet zwischen den Songs nicht mit dem Publikum. Am Ende vielleicht ein kurzes Danke als Anerkennung für feiernde Fans. Vorstellung beendet. Lindemann: „Ich möchte die Neugier bewahren. Wenn du das Geheimnis preisgibst oder den Hintergrund kommentierst, sind die Leute manchmal richtig enttäuscht.“
Anspieltipps der Redaktion:
Rammstein / Deutschland
Rammstein / Mutter
Rammstein / Mein Herz brennt, Piano Version by Sven Helbig
Lindemann / Steh auf
ZAZ / Le jardin des larmes feat. Till Lindemann
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