Tageblatt: Sie sind bzw. waren lange Jahre Archivar bei der Philharmonie Luxemburg. Wie kommt man eigentlich zu diesem doch ganz speziellen Beruf?
Raphael Rippinger: Der Beruf des Archivars hat sich in Luxemburg eigentlich erst im Laufe der letzten 15 Jahre sehr stark entwickelt. Als offizielle Berufsbezeichnung gibt es ihn erst seit 2017. Zu meiner Zeit gab es das also noch nicht in dieser Form. Ich habe 2005 angefangen, also in dem Jahr, in dem die Philharmonie eröffnet wurde. Ich hatte damals in der Zeitung eine Anzeige gelesen, in der eine Menge an verschiedensten Fertigkeiten verlangt wurde. Ohne je etwas mit Archiven zu tun gehabt zu haben, aber da ich in vielen von den verlangten Fertigkeiten Erfahrung hatte, habe ich mich gemeldet. Von meiner Ausbildung in den USA her bin ich staatlich geprüfter Flugzeugbauer. Ich habe allerdings nur ein Jahr in diesem Beruf gearbeitet, dann bin ich in den Tonbereich gekommen, habe auf Filmsets gearbeitet und Hörspiele für den Rundfunk produziert. Danach habe ich in der Werberegie von RTL gearbeitet, anschließend bei Tango-TV, dann wieder im Tonbereich, bis ich schließlich 2005 zum Team der Philharmonie stieß.
2005 stand die Philharmonie ja noch in den Kinderschuhen, da war das Archiv wohl recht übersichtlich.
Genau, und das war auch gut so. Ich konnte das Archiv also von null aus aufbauen, und zwar so, wie der Betrieb es brauchte. Der damalige Intendant Mathias Naske gab mir Richtlinien, was wichtig für ihn und die Philharmonie wäre. Da es aber in der Anfangsphase nicht sonderlich viel zu archivieren gab, hatte mich Matthias gefragt, ob ich mich auch in anderen Bereichen einbringen könnte. Also bin ich erst mal in der Redaktion der Print-Publikationen der Philharmonie und später in der Marketing-Abteilung gelandet. So konnte ich nach und nach ein digitales Archiv aufbauen. In einer ersten Phase war das eher dokumentarisch und historisch, also hauptsächlich Künstler- und Konzertfotos. Nach der ersten Spielzeit wuchs dann das physische, administrative Archiv mit Verträgen, Rechnungen, Bewerbungen, Korrespondenz mit den Agenturen usw. Dokumente betreffend Finanzen dieses Archivs müssen zehn Jahre aufbewahrt werden, dann können sie vernichtet werden. Aber einige Dokumente können dann auch ins historische Archiv aufgenommen werden. Was historisch wertvoll ist und was weg kann, ist die Grundfrage, die ich mir jedes Jahr als Archivar stellen musste.
Und was kommt denn weg?
Alles, was sich im administrativen Archiv befindet, älter als zehn Jahre ist und mit Rechnungen und Steuern zu tun hat, kann weg. Das würde auf die Dauer auch zu viel Platz einnehmen. Das historische Archiv dagegen wächst eher langsam. Hier wird natürlich alles aufbewahrt, was geschichtlich mit dem Gebäude der Philharmonie zu tun hat, beispielsweise bauliche Veränderungen, oder den Spielzeiten, wie Programmhefte, Jahresprogramme usw. Hier finden sich Dokumente wieder wie erste Entwürfe des Gebäudes verschiedener Architekten, Entwürfe zur CI, erste Publikationen und Videos über die Philharmonie usw.
Das heißt, es gab anfangs keine objektiven Kriterien oder eine wirkliche Leitlinie?
Nein, Matthias Naske hat mir relativ freie Hand gelassen und so konnte ich das Archiv nach meinen Vorstellungen und den Bedürfnissen der Mitarbeiter aufbauen. Ich bin da eher neutral an die Sache herangegangen. Das administrative Archiv ist da weniger spannend, weil es ministerielle Richtlinien gibt. Das historische oder dokumentarische Archiv umfasst eigentlich alles, was mit den Produktionen hier im Haus zu tun hat. Jede Print-Publikation wird in fünf Exemplaren aufbewahrt, Jahresprogramme so gut wie Monats- oder Abendprogramme, thematische Broschüren, Kritiken, Interviews, Konzertfotos und natürlich auch digital in Form einer PDF-Datei.
Finden sich denn auch besondere Objekte im Archiv?
Ja, da gibt es einige. Zum Beispiel ein Cello, das während des Rainy-Days-Festivals mit Pfeilen durchbohrt wurde. Danach sollte es weggeworfen werden, ich habe es dann aber für unser Archiv gerettet. Oder eine Geige, die im Rahmen eines Konzerts bewusst zerstört wurde. Sonderbare, zusammengebastelte Instrumente, die nur einmal gebraucht wurden. Oder das Instrument, welches den ersten Ton im Foyer der Philharmonie produzierte. Da gibt es Etliches. All dies wird so aufbewahrt, dass es einem Konzert oder sonstigen Veranstaltung zuzuordnen ist.
Mit der Fusion des Orchestre Philharmonique und der Philharmonie kam dann ab 2012 eine weitere Aufgabe hinzu?
Als das OPL hinzukam, war das für alle erst einmal ein sehr aufregender und besonderer Moment. Ich habe natürlich auch all das politische Material, das diese Fusion vorbereitet hatte, archiviert, sodass wir den ganzen Prozess vom Anfang bis zur fertigen Fusion dokumentiert haben. Zudem musste viel Material des Orchesters aus der Post-RTL-Ära, also ab 1996, gesichtet und neu strukturiert werden. Und immer wieder die Frage: Was ist wichtig für das historische Archiv? Dann kam ein sehr wichtiger Moment für mich. 2013 wurde ich vom Gewandhausorchesterarchivar kontaktiert, wegen einer Anfrage, die unser Musikjournalist Loll Weber hinsichtlich des Dirigenten Henri Pensis bei ihnen gestellt hatte. Aus diesem eher zufälligen Kontakt ist dann die Idee entstanden, einen Verein zu gründen, bei dem alle Archivare der großen deutschsprachigen europäischen Orchester vertreten sein sollten. Dieser Verein nennt sich NOA, also Netzwerk historischer Orchester-Archive, der sich die Aufgabe gesetzt hat, uns über unsere Arbeit in Form von turnusmäßigen Newslettern und jährlichen Meetings auszutauschen. In NOA sind das Gewandhausorchester, die Wiener Philharmoniker, Wiener Symphoniker, Berliner Philharmoniker, Berliner Symphoniker, die Staatstheater Dresden und das Orchestre Philharmonique du Luxembourg als Gründungsmitglied vertreten. Wir haben uns dann regelmäßig getroffen und ich merkte sehr schnell, dass ich von Archiv-Arbeit eigentlich als Quereinsteiger keine Ahnung hatte. Doch durch unseren regen Austausch mit meinen Kollegen konnte ich nach und nach in die Arbeit eines Archivars hineinwachsen.
Es gibt ja eine Menge von Aufnahmen auf verschiedenen Tonträgern des Orchesters. Werden auch die hier aufbewahrt?
Jein. 1996 entstand ja die „Fondation Henri Pensis“, die die Geschicke des Orchesters übernahm und leitete, nachdem sich RTL vom Orchester getrennt hatte. Einen Teil der RTL-Aufnahmen habe ich bekommen, aber ein Großteil wurde von RTL vernichtet bzw. die Bänder wurden neu überspielt. Wir haben eine gewisse Anzahl von Vinyl-Platten erhalten, aber längst nicht alles, was aufgenommen wurde. Heute kann man allerdings im Internet vereinzelte Aufnahmen aus diesen Jahren finden. Ich habe allerdings alle Aufnahmen, die seit Januar 1996 von Jeannot Nies und Jeannot Mersch, den Ex-Tontechnikern des Orchesters, gemacht wurden, dies meist in digitalisierter Form auf CD/DVD, erhalten.
Wie steht es denn mit dem Material von Auslandstourneen?
Da archivieren wir nur die Abendprogramme. Wir haben sicher noch verschiedene Plakate oder anderes Material, aber das ist nicht die Regel.
Wenn jetzt eine Spielzeit anfängt, wann beginnt für den Archivar der Prozess der Dokumentation?
Meistens schon vorher. Das Sammeln und Einordnen beginnt eigentlich in dem Moment, wo die Agenturen uns aus den Bereichen Klassik, Jazz, World usw. Künstlermaterial zuschicken, also Fotos, Biografien, Programmvorschläge, Besetzungen usw. Dafür arbeitete ich auch sehr eng mit der Marketing-Abteilung und einzelnen Projektleitern/Projektleiterinnen zusammen.
Was zeichnet denn den Beruf des Archivars besonders aus?
Seine Vielseitigkeit. Als Archivar hat man Kontakt zu vielen Abteilungen und auch zu den Agenturen. Eigentlich muss man immer genau wissen, was läuft. Die Arbeit ist so intensiv und vielfältig, dass einem oft gar nicht die Zeit bleibt, sich das Material genau anzusehen. Man bekommt Dossiers von den verschiedenen Abteilungen und muss sie sofort katalogisieren, ohne sich den gesamten Inhalt anschauen zu können. Das ist für eine einzelne Person in einem Haus wie der Philharmonie gar nicht möglich. Alleine für die seriöse Verarbeitung und Archivierung eines Dossiers bräuchte man einen halben Arbeitstag. Es gibt Ausbildungen an Hochschulen für Archivwissenschaft, die drei Jahre dauern. Ich hatte diese Ausbildung leider nicht, konnte aber durch mein technisches Wissen im digitalen Medienbereich vieles wettmachen. Es war für mich ein learning by doing. Und ich habe mich nie dabei gelangweilt (lacht).
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