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Streaming„Le pupille“ von Alicia Rohrwacher: 17 böse Mädchen und der englische Kuchen: 

Streaming / „Le pupille“ von Alicia Rohrwacher: 17 böse Mädchen und der englische Kuchen: 
„Le pupille“ katapultiert sich binnen Minuten in das Herz eines jeden Weihnachtsmuffels und darf mit sehr ruhigem Gewissen in den Kanon der großen Weihnachtsfilme eingenommen werden

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„Un film maldestramente, liberamente ispirato ad una lettera.“ Dass gerade beim Streamingdienst des Hauses mit der Maus ein bis auf den letzten Millimeter durchexerzierten und von Algorithmen und Markennamen geleiteten Content-Produzenten ein solches Filmjuwel aufzutauchen vermag, grenzt an ein weihnachtliches Wunder.

Ein mittellanges Filmprojekt, welches plötzlich wie ein verschmitzt grinsendes trojanisches Pferd im immergleichen Disney-Prinzessinnen-Sumpf steht. Das maldestramente – zu Deutsch: holprig oder unbeholfen – klingt wie eine Ansage. Alice Rohrwacher und ein ganzer Haufen kleiner Kinder drehen dem Maus-Algorithmus eine lange Nase und strecken die Zungen entgegen.

Rohrwacher erzählt eine Weihnachtsgeschichte von 17 kleinen Waisenmädchen, die Heiligabend und Weihnachten unter der Autorität einer auf den ersten Blick strengen, aber herzensguten, von Alices Schwester Alba Rohrwacher gespielten Mutter Oberin Fioralba im katholischen Internat verbringen.

Weihnachten ist ein wichtiger Termin in der katholischen Kirche und das Internat hat für die Christmette was ganz Besonderes im Programm. Die kleinen Mädchen sind wie Engelchen verkleidet und sind als tableau vivant in der Kirche ausgestellt. Das Geheimnis von Christi Geburt ist kraftvoll und wunderbar, gibt eine Nonne zu verstehen. Die Dorfbewohner können gegen eine kleine Gabe an die Oberin diesen Himmelswesen/Waisenkindern den Wunsch eines Gebots an einen Nahestehenden vorbringen. Auftritt Valeria Bruni Tedeschi, die sich mit einem übergroßen „Zuppa inglese“-Kuchen den Kindern aufdrängt, um im Gebet dafür zu sorgen, dass ihr Liebster wieder zu ihr kommt. Die Oberin entledigt sich zwar der Frau, der Kuchen brennt sich aber in die Pupillen ein. Vor allem in die der kleinen Serafina. Denn es ist nicht gegeben, dass die Kleinen am Weihnachtstisch ein Stück dieses majestätischen Kuchens erhalten werden. Ein Kuchen, für den 70 Eier benutzt werden mussten.

Zeitlose Komponente

Alice Rohrwacher ist eine viel beschäftigte Regisseurin. Trotz ihrer von Publikum und Kritik mit sehr viel Liebe aufgefressenen Spielfilme „Le meraviglie“ und „Lazzaro felice“ ist sie dank ihrer verspielten und freien Art und Weise immer wieder auf kürzere Formate gesprungen. Sei es mit JR für das elegische Beigrabesetzen von „Omelia contadina“, ein kleines Pandemieprojekt, und „Futura“, die dokumentarische Zusammenarbeit mit u.a. Pietro Marcello, in ein Porträt Italiens, das durch die Augen junger ItalienerInnen gezeichnet wird. Für „Le pupille“ hat sich Rohrwacher jetzt also unbeholfen – so ihre eigenen Worte, als Vorspann von Hand geschrieben und vorgelesen – von einem Brief der Schriftstellerin Elsa Morante an ihren Freund Goffredo Fofi inspirieren lassen. Weihnachtswünsche, in denen auch dieser ominöse Kuchen zur Sprache kommt.

Ihr mittellanger „Le pupille“ katapultiert sich binnen Minuten in das Herz eines jeden Weihnachtsmuffels und darf mit sehr ruhigem Gewissen in den Kanon der großen Weihnachtsfilme eingenommen werden. Der Autor dieser Zeilen hat sich dieses Kleinod binnen weniger Tage gleich zweimal angeschaut. Politisch irgendwo zwischen Jean Vigos „Zéro de conduite“ und „if…“ von Lindsay Anderson und visuell eng mit Bergmans „Fanny och Alexander“ verbunden – vielleicht der größte Weihnachtsfilm aller Zeiten –, was garantiert eher den grandiosen Bildern Hélène Louvarts geschuldet ist, die sich kurzzeitig als Großnichte von Sven Nykvist gibt. Satte Erdfarben und naturalistische Beleuchtung geben dem Film und den Gesichtern vor der Kamera eine zeitlose Komponente.

Der ganze Film ist ein verspieltes tableau vivant, so als ob italienische Barockkünstler Filme machen würden. Wann „Le pupille“ zeitlich einzuordnen ist, ist nur aus einem Radiobericht zu erahnen, der von den Erfolgen der italienischen Armee berichtet. Nachrichten, die die Kinder von der gläubigen Autorität, derer sie unterstellt sind, gezwungen werden, zu hören. Aber weltliche Musik hören ist toller und befreit den Körper. Bambini cattivi – böse Kinder, gibt die Oberin daraufhin zu verstehen. Das Internat steht, wie so oft im Kino, stellvertretend für eine einengende, von Normen und Regeln durchseuchte Gesellschaft – wie bei Vigo/Frankreich oder Anderson/England, aber nicht nur – und ihre katholischen Verantwortlichen sind nur die verlängerten (und vielleicht geistlichen) Arme dieser Dynamiken. Manchmal muss sich Mädchen als ragazza cattiva herauskristallisieren, damit alle ein Stück Kuchen abbekommen können. Und diesen Schalk, den Rohrwacher mit diesen Kindern dekliniert wie niemand sonst gerade im Film, von dem sollten wir uns alle vielleicht auch eine dicke Kuchenscheibe abschneiden.