Diese Zeiten machen mürbe. Mit dem Einfall der russischen Armee in die Ukraine haben wir die vermeintliche Gewissheit, in Europa würde kein Krieg mehr ausgefochten, gemeinsam zu Grabe getragen. Zuvor trugen wir schon andere Gewissheiten gemeinsam zu Grabe, denn entgegen unserer Annahme, dass Diversität nun einmal der Toleranz bedürfe und mit Toleranz der gesellschaftliche Zusammenhalt auf jeden Fall gesichert sei, zeigte uns die Pandemie, wie schnell tiefe Risse unsere Gesellschaft durchfahren können und wie heftig Freiheitsgrundrechte mit Vorstellungen von kollektiver Verantwortung und Solidarität kollidieren können. Von diesem Schock haben wir uns noch nicht erholt; und nun folgt gleich der nächste, mit all seinen noch nicht absehbaren ökonomischen und sozialen Folgen.
Die Untiefen des brodelnden Kessels, zu dem unser Planet geworden ist, speien nun auch ganz unvermutet Fragen aus, die nicht nur unsere reale Lebenswelt, sondern auch ihre geistige Kampfarena, die Literatur, betreffen. Vor allem einen Bereich der Literatur: die Lyrik. Innerhalb des Kunstkosmos stellt sie das dar, was die Felsenbirne im Vergleich zu anderen Vertretern unserer heimischen Flora ist: eine seltene Gattung, deren Schattendasein wohl auch darauf zurückzuführen ist, dass sie im Kern als unverdaulich gilt. Dennoch machte die Lyrik in den letzten Wochen und Monaten erstaunlicherweise vermehrt von sich sprechen.
Von Wolodymyr Selenskyj bis Amanda Gorman
Dabei trat sie in durchaus unterschiedlichen Gewändern auf: Einmal schaffte es die Lyrik in die Headlines, als der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj Putin öffentlich mit einem durch spezifische Wiederholungen gekennzeichneten Text angriff, der später unter anderem als „Wutgedicht“ bezeichnet wurde. Ein anderes Mal ließ die Performance der weltberühmten Poetin Amanda Gorman die Lyrik zum Gegenstand von Medienberichten werden: Bei einer Veranstaltung zu den UNO-Nachhaltigkeitszielen trug sie ihr Gedicht „An Ode We Owe“ auf der Bühne vor und erntete dafür viel Applaus.
Jetzt kann man sich fragen: Warum nehmen Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, für ihre Äußerungen überhaupt auf die Lyrik Rekurs, eine Gattung, die so wenig rezipiert wird? Zumindest im Fall von Amanda Gorman scheint die Antwort auf der Hand zu liegen: Natürlich nutzt sie als Lyrikerin die Lyrik, um sich Gehör zu verschaffen. Dennoch bleibt die Frage bestehen: Warum ausgerechnet die Lyrik? Man würde meinen, der Verfasser oder die Verfasserin, der Redner oder die Rednerin machte sich damit keinen Gefallen, wollte er oder sie viele Menschen erreichen. Oder?
Die Antwort darauf mag überraschen. Unter den literarischen Gattungen ist die Lyrik das missachtete Stiefkind. Das ist unbestreitbar. Nichtsdestotrotz geht von ihr eine Faszination aus, die archetypische Züge trägt. „Jeder Dichter ist ein Orakel, aus dem sich das Unerschaffene in die Welt spricht. Jeder Dichter wirkt durch die unsichtbare Welt und weiß Dinge, die er nicht wissen kann“, lässt der Schriftsteller und Lyriker Alfred Goubran eine seiner Figuren aus dem Roman „Das letzte Journal“ sagen.
Er bringt es damit auf den Punkt: Im Dichter sehen wir jemanden, der sich auf der Schwelle zwischen dieser und einer anderen Welt befindet, der aus einer bestimmten Ursache – nennen wir diese Ursache, um seiner mythischen Dimension Rechnung zu tragen, Gabe oder Talent – einen stärkeren Bezug zum Jenseits, zur Anderswelt hat und damit Dinge aus eben jener Welt in unsere (rück-)übertragen kann.
Mit scharfer Feder
Der Dichtung als dem Produkt des Dichters haftet also die Magie des Fremden, Jenseitigen an. Das macht ihren Gebrauch so reizvoll. Deshalb gibt es Menschen wie Amanda Gorman, die sich ganz in den Dienst der Lyrik stellen, trotz der Tatsache, dass ebendiese auf dem aktuellen Literaturmarkt in eine Nische abgedrängt wurde. Deshalb schlüpfen beschlagene und weltmännische Politiker wie Wolodymyr Selenskyj zeitweise in die konträre Rolle des Dichters und gießen ihren Groll, ihre Verzweiflung und Frustration in die feingliedrige Form eines lyrischen Texts.
Was den ukrainischen Staatschef im Konkreten angeht, so kann ein derart radikaler Image-Bruch natürlich auch der Generierung von Aufmerksamkeit dienen. Dennoch nehme ich an, dass das nicht alles ist, was Wolodymyr Selenskyj damit bezweckte. Indem er seinen Gegner mit vor Zorn schäumender Poesie attackierte, machte er sich die uralten Idee, die Feder sei mächtiger als das Schwert, zunutze. Auf ebendiesen Gedanken stützte sich auch Amanda Gorman, als sie bei ihrer Rede vor den Vereinten Nationen einen pathetischen Universalismus beschwor und an die gesamte Menschheit appellierte: „To anyone out here:/ I only ask that you care before it‘s too late, / That you live aware and awake, / That you lead with love in hours of hate.“
Beide bedienten sich der Lyrik und nicht etwa der Prosa, weil erstere eine eigene, tief in unserem Denken verwurzelte Anziehungskraft besitzt. Die Lyrik erscheint, wenn man sie für öffentliche Stellungnahmen einsetzt, würdevoller, mächtiger und bedeutungsvoller als ein „einfacher“ prosaischer Text. Hierbei gehört es jedoch zum Wesen der Dinge, dass die Schlachten, die mithilfe der Lyrik geschlagen werden, wie Sternschnuppen an uns vorbeisausen und am Medienhimmel verpuffen, ohne ein wirkliches Echo zu erzeugen. Denn die Lyrik ist zu unpopulär, als dass ein langanhaltender Diskurs über ihre Inhalte entstehen könnte.
Die glänzende Vergangenheit der Lyrik
Aber woher genau kommt diese besondere Ausstrahlung der Lyrik? Und warum messen wir ihr trotz ihrer Vernachlässigung innerhalb der Gesellschaft so viel Kraft zu? Nun, meiner Ansicht nach sind wir der Überzeugung, dass gerade die Dichtung Bruchstücke dieses für uns unzugänglichen „Drüben“ in sich trägt und der Dichter somit eine Mittlerfunktion einnimmt, weil die Dichtung als die Urform der Schreibkunst gilt. Schon die antiken Epen wurden in Versen abgefasst; das dichterische Sprechen (oder Raunen) fand in grauer Vorzeit vor allem in religiösen Kontexten statt.
Daher kann die Dichtung nach wie vor ihren Ruf verteidigen, die höchste aller literarischen Ausdrucksformen zu sein. Umso mehr, da sie oft auf spezielle Art geschliffen werden muss: Stilistische Eleganz, Bildlichkeit, Klang und Rhythmik (ggf. geschaffen durch das Metrum und das Reimschema), Uneigentlichkeit des sprachlichen Ausdrucks, an die sich ein ganzer Katalog an Stilmitteln anschließt, sowie der Fokus auf weitere formelle Aspekte der Textgestaltung – all diese Facetten können selbstverständlich auch in Prosawerken oder Dramen von zentraler Relevanz sein, jedoch werden sie erst in der (traditionellen) Dichtung so miteinander verwoben, dass die künstlerische Könnerschaft hier deutlich zur Schau getragen werden muss, wenn das Gedicht später als gelungen bewertet werden soll.
Zu guter Letzt ist es auch die Dichtung, die am ehesten dem Medium Sprache, das heißt dem Stoff, aus dem sie besteht, zu entwachsen versucht. Viel Bedeutung wird auf wenig Fläche verteilt, die relative Kürze der Texte und die Komprimiertheit des Inhalts spiegeln das unbedingte Streben nach Bündigkeit, die im Dienst des Sinns steht. Wie mit Pfeil und Bogen ausgestattet versucht der Dichter mit einer raschen Handbewegung, ins Schwarze zu treffen – wobei sich die Zielscheibe wohl zu gleichen Teilen auf unserer Seite und am Ufer der Anderswelt steht.
Keine Interpretation ist erschöpfend
„Nur schwache Gedichte lassen sich erschöpfend interpretieren oder verstehen“, sagt der Literaturwissenschaftler Georg Steiner. Gute Gedichte entziehen sich unserem Verständnis immer ein Stück weit, sie lassen sich nicht zur Gänze aufschlüsseln. Herausgeber und Haiku-Dichter Hubertus Thum schreibt im Haiku-Jahrbuch 2003, dass das Haiku davon lebe, „nach drei Zeilen überhaupt erst anzufangen“. Ich denke, dass das für die meisten, wenn nicht für alle Gedichte gilt.
Eben das macht ihren Zauber aus: Lyrische Texte exponieren weit weniger eine Bedeutung, als dass sie auf sie verweisen. Genau dieser Umstand wird der Dichtung – und ebenfalls dem Dichter als ihre rechte Hand – in letzter Konsequenz jedoch zum Verhängnis. Das erläuterte auch schon der Lyriker Ben Lerner in seinem grandiosen Essay „Warum hassen wir die Lyrik?“. Jedes Gedicht, obgleich sinnhaft, gestaltet sich in erster Linie als eine Zeigegeste auf etwas, das sich der Begrifflichkeit, der logischen Analyse, der bewussten Erkenntnis entzieht. Damit kristallisiert sich der Prozess des dichterischen Transponierens als unvollständig heraus. Das Jenseitige kann nicht ins Diesseits überführt werden, da die menschliche Sprache und die menschliche Ratio nicht alles erfassen können; bei der Gedichtinterpretation bleibt immer ein Residuum des Unaufgelösten übrig.
Die mythologische Grundlage
Demnach behält jedes Gedicht stets einen aporetischen Charakter. Der Lyriker wird seinerseits zu einer tragischen Figur. Das lehrt uns schon das leidvolle Schicksal des Sängers Orpheus: Er stieg in die Unterwelt hinab, um seine Frau Eurydike zu retten und in die Welt der Lebenden zurückzuführen. Hades und Persephone erlaubten ihm, seine Frau aus ihrem Reich hinauszuleiten, unter der Bedingung, dass er sich auf dem Rückweg nicht nach ihr umschaute. Die zwei brachen auf, doch nach einiger Zeit blickte Orpheus über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass Eurydike ihm noch folgte – ein fataler Fehler. Seine Frau musste in der Unterwelt bleiben und er kehrte alleine von seiner gescheiterten Mission zurück.
Begreift man diesen Mythos als Allegorie, wird offenkundig: Das, was „drüben“ ist, kann nicht hergeholt werden. Der Akt des Dichtens ist nie von Erfolg gekrönt, weil es die Umstände unserer Welt nicht zulassen. Was aber bleibt, und was spürbar wird durch das Gedicht, ist die Aura des Jenseitigen. So wirken Dichtung und Dichter gleichzeitig potent und impotent. Der Dichter muss bei seinem Vorhaben, „das Unerschaffene in die Welt“ zu sprechen, unweigerlich scheitern. Dennoch wird er durch seine spezielle Affinität zu der Anderswelt in die Nähe des Magiers (positiv) oder des Hexers bzw. des Pfuschers (negativ) gerückt.
Seine schöpferischen Erzeugnisse tragen, wie schon gesagt, die Strahlkraft des Unerschaffenen in sich, geben sie aber nicht frei, weil ihre Quelle unverfügbar bleibt. Das wirkt sich in einem zweiten Schritt auf die Rezeption von Dichtung aus: Sie bleibt unbefriedigend. Nach dem Dichter-Vortrag entsteht für die Hörer der Eindruck, etwas gestreift zu haben, das nicht fassbar oder benennbar ist. Der Text scheint das Zentrum, um das er rotiert, nicht preisgeben zu wollen. Das, was er explizit macht, erweist sich im Vergleich dazu als mangelhaft, weil es in der Sprache – mit all ihren Begrenzungen – verhaftet bleibt.
Mit Dichtung kann man keinen Krieg gewinnen
Das ist die Ursache für die gefühlte Unverdaulichkeit der Lyrik. Deswegen sucht sie vergebens nach einem breiten Publikum. Aus diesem Grund wird sie allgemein verschmäht und gemieden. Die Lyrik ist unbeliebt, weil sie im Raum des Versuchsmäßigen stecken bleibt – stecken bleiben muss. Trotzdem wird sie wegen ihres Bezugs auf das Unerschaffene mit allerlei Vorstellungen von ihrer ins Metaphysische spielenden Wirkungskraft überfrachtet.
Eben dieses Paradoxon müssen wir im Kopf behalten, wenn wir die Ereignisse der letzten Zeit verstehen wollen. Denn tatsächlich geriet die Lyrik ein weiteres Mal ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Mit einem Text, der im Anschluss unter dem Titel „Krieg ist keine Metapher“ in der Zeit abgedruckt wurde, trat die ukrainische Lyrikerin Halyna Kruk bei der Eröffnung des vom Haus der Poesie kuratierten 23. Poesiefestivals in der Akademie der Künste in Berlin auf.
In ihrer Rede thematisierte Halyna Kruk die Ohnmacht der Lyrik im Kontext des Kriegs: „Gegen Leute mit Maschinengewehren helfen keine Metaphern“; sagte sie. „Wenn dein Auto, mit dem du und deine Kinder dem Krieg zu entfliehen versuchen, von einem Panzer überrollt wird, hilft kein Gedicht. Wenn du tagelang vor dem verschütteten Keller eines Hochhauses ausharrst und hörst, wie drinnen deine Kinder und Enkel schreien, du sie aber nicht rausholen kannst, ist Poesie fehl am Platze.“ Und weiter: „Wir sprechen eine Sprache, die immer unverständlicher wird, uns ist nicht nach Dichtung.“
Eine bedeutsame Gegenposition
Mit ihren Worten gab Halyna Kruk eine kritische Antwort auf die Jahre zuvor getätigte Äußerung einer russischen Moderatorin, Dichtung stünde jenseits des Kriegs, sei gleichsam über ihn erhaben. Ihren engagierten Zwischenruf können wir somit als einen Versuch der Dekonstruktion deuten, der sich auf eine spezifische Aussage bezieht. Da wir aber nun so viel über die Lyrik wissen, erkennen wir, dass die Tragweite von Halyna Kruks Rede ihren direkten Hintergrund übersteigt.
Sie entkräftete nämlich jene Grundsätze, auf die Wolodymyr Selenskyj und Amanda Gorman rekurrieren, wenn sie mithilfe der Lyrik öffentlich Stellung beziehen. Einer von diesen Prinzipien lautet: Mit Dichtung lassen sich soziale und politische Kämpfe gewinnen. Laut der ukrainischen Poetin könne die Feder nun aber nicht über das Schwert triumphieren und die Lyrik sei machtlos gegenüber den Verheerungen in ihrem Heimatland. Damit kratzt Halyna Kruk letztlich an der allgemeinen Hochstilisierung der Lyrik, die auf dem Glauben beruht, sie enthalte etwas vom Schimmer des Unerschaffenen und sei deswegen besonders einflussreich. Immerhin wird der Lyrik nach wie vor zugeschrieben, eine Welt zu berühren, die uns eigentlich verschlossen bleibt, wodurch sie, dem Gedanken folgend, eine Brücke zur Ewigkeit formt.
Die Lyrik als das sehen, was sie ist
Berechtigterweise wehrte sich die ukrainische Lyrikerin Halyna Kruk gegen die Behauptung, die Dichtung stehe über dem Krieg, und entlarvte diese Annahme als Pietätlosigkeit, die sich nur Nicht-Betroffene leisten können. In eine ähnliche Richtung zielte auch Adorno, als er sagte, nach Ausschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch. Nach dem Holocaust könne der Glaube an dieses Unerschaffene, an diese Anderswelt, nicht mehr aufrechterhalten werden. Deswegen sei das Gedicht als ihr vermeintlicher Abglanz unangemessen geworden, so die implizite Aussage.
Solche Reaktionen sagen etwas über die Zerrissenheit der Lyrik aus. Das Herz dieser Gattung schlägt zwar, sitzt jedoch in der Brust eines mächtig-ohnmächtigen Zwitterwesens, das wir zwar nicht wirklich wertschätzen, dem wir aber trotzdem überirdische Kräfte zuschreiben. Der Status quo der Lyrik besteht darin, zwischen diesen beiden Polen hin- und herzuschwingen, wobei sie sich immer wieder schnell erschöpft, weil kein Ausweg aus dem Dilemma möglich ist. Um die Gattung zu befreien, müssen wir sie letztlich von ihrem Sockel stoßen, damit auch der Bann unserer negativen Projektionen gebrochen wird.
Hierfür können die Worte Halyna Kruks den ersten Anstoß geben. Denn wir müssen anerkennen, dass sich Worte, so schneidend sie auch sein mögen, weder Geist noch Fleisch so tief verletzen können wie die Kriegsmaschinerie. Wenn wir das begriffen haben und von der Dichtung nur mehr die Leistung verlangen, die sie für uns als genau dieses konkrete Gedicht in genau diesem Augenblick zu erbringen vermag, können wir auch ihr ganzes, in der Wirklichkeit verwurzeltes Potenzial entdecken.
Dann werden wir sehen, wie sehr uns lyrische Texte berühren oder aufheitern können, wie viel Erstaunliches sie in sich bergen, welche wunderbare Quellen des Trosts und der Kraft sie schließlich auch sind, einfach weil sie mit wenigen Worten auskommen und dafür umso öfter die richtigen enthalten. Vor allem werden wir erkennen, dass genau das genug ist; dass es reicht, dass die Lyrik uns in einem bestimmten Moment ein Gefühl oder einen gedanklichen Impuls schenkt, das oder den wir anders nicht gehabt hätten. Dafür lohnt es sich, nun einen weiteren Glauben zu Grabe zu tragen – diesmal jedoch einen, der uns die realistische Sicht auf die Dinge versperrt und einer wundervoll unvollkommenen Gattung ihre Vitalität raubt.
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