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ForumCancel Culture: Es ist keine Fake-Debatte, Frau Jacobs!

Forum / Cancel Culture: Es ist keine Fake-Debatte, Frau Jacobs!
Tessie Jacobs bezieht sich in ihrem Editorial unter anderem auf Aussagen des Direktors des Escher Resistenzmuseums, Frank Schroeder Foto: Editpress/Julien Garroy

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* Zum Autor

* Norbert Campagna ist „professeur-associé“ für Philosophie an der Universität Luxemburg und Studienrat für Philosophie, Geschichte, Psychologie und Englisch am „Lycée de garçons Esch“. Als Autor oder Mitherausgeber von über 30 Büchern hat er sich häufig mit sozialen Themen befasst.

Im Editorial der woxx vom 30.9.2022 wirft Tessie Jacobs dem RTL-Journalisten Guy Seyler und dem Tageblatt-Journalisten Marco Goetz sowie dem Direktor des Escher Resistenzmuseums, Frank Schroeder, vor, sie würden ein Problem erfinden, nämlich das Problem der Cancel Culture, um sich dann in eine Debatte über dieses Problem hineinzusteigern. Diese drei Personen hatten nämlich in ihren Stellungnahmen auf die Winnetou-Debatte reagiert, von der sogar im Monde die Rede war, und sie hatten dabei auf die Gefahren hingewiesen, die heute für Kunstfreiheit und Kultur bestehen. Es wird ihnen auch vorgeworfen, jeglichen Faktencheck zu unterlassen.

Was diesen letzten Punkt betrifft, so möchte ich Frau Jacobs an ihre Aussage erinnern – fast wortgetreu: „Wenn ein Homosexueller etwas als homophob empfindet, dann ist es auch homophob.“ Warum sollte dies nicht auch für Freunde der Kunstfreiheit gelten: „Wenn ein Freund der Kunst etwas als kunstfeindlich empfindet, dann ist es auch kunstfeindlich?“ Im Falle der Homosexuellen ist Frau Jacobs der Faktencheck komplett gleichgültig und es zählt nur das eigene Empfinden – das als Empfinden zwar auch ein psychologisches Faktum ist, aber da es hier nicht um die Psychologie, sondern Epistemologie geht, ist das irrelevant. Haben wir jetzt, nach der Doppelmoral, eine Doppelerkenntnistheorie?

Dass Frau Jacobs sich lieber mit kurzen Aussagen von Journalisten oder eines Museumsdirektors beschäftigt und nicht mit längeren Aussagen zum Thema, ist verständlich, da sie hier leicht kritisieren kann. Doch wie heißt es bei Corneille: „A vaincre sans péril, on triomphe sans gloire.“ In den Vereinigten Staaten von Amerika werden in vielen Schulbibliotheken Bücher weggenommen, etwa Mark Twains Kinderbücher – so gelesen in einer Times-Ausgabe, die ich leider nicht mehr wiederfinde. Das sind Fakten.

Wenn Frau Jacobs schreibt, dass bei Winnetou kein Verbot gefordert wurde, so hat sie natürlich recht. Aber Frau Jacobs vergisst dabei, darauf hinzuweisen, dass in einer totalitären Gesellschaft keine Verbote mehr notwendig sind, da die Menschen schon selbst davon ablassen, das Verbotene zu schreiben oder zu publizieren. Frau Jacobs lese doch einmal bei Tocqueville nach, der gesagt hat, dass eine demokratische Tyrannei weitaus wirksamer ist als die Inquisition, da in ihr ein derartiger geistiger Druck ausgeübt wird, dass die Menschen nicht einmal mehr auf den Gedanken kommen, etwas Verbotenes zu publizieren. Der Ravensburger Verlag hat kalte Füße bekommen. Das ist ein Faktum. Und er hat kalte Füße bekommen, weil eine kleine, aber laute Minorität auf die Stereotypisierungen der Indianer hinwies. Dass es sich hier nicht um einen Einzelfall handelt, zeigen die Debatten um Hergés „Tintin au Congo“.

Ich habe kürzlich mit einer Person gesprochen, die an einem Weiterbildungsseminar für Bibliothekare teilnahm, bei dem die Organisation Finkapé federführend war, und diese Person empfand, dass man dort nicht weit von der Message war: Säubert eure Bibliotheken! Und da laut Frau Jacobs das Empfinden die Wahrheit des Empfundenen garantiert, ist das Faktum gecheckt.

Kathleen Stock und „Material Girls“

Es ist mir nicht bekannt, dass Frau Jacobs sich zu irgendeinem Zeitpunkt mit der lesbischen Feministin und Philosophin Kathleen Stock solidarisch erklärt hat, als diese zum Opfer der Mobjustiz der Gendertheorie-Anhänger wurde – die gemeinsam mit den Cancel-Culturisten, Identitaristen, Racialists usw. die Woke-Bewegung bilden – und zwar wegen ihres Buches „Material Girls“. Es ist in diesem Kontext wichtig, darauf hinzuweisen, dass heute nicht nur die Kunstfreiheit, sondern auch die Forschungsfreiheit in Gefahr ist. Denkt man die Logik der Racialists zu Ende, dann wird man es den Weißen verbieten, über die Geschichte der Schwarzen zu forschen bzw. wird man ihnen keine Forschungsmittel zur Verfügung stellen, da sie, als Weiße, den falschen Standpunkt einnehmen.

Hier wird Frau Jacobs fragen: Wo sind die Fakten? Und meine Antwort lautet, dass es mir hier um die Konsequenzen eines Standpunktes geht: Wer A sagt, muss auch B sagen, wenn er kohärent mit sich selbst bleiben will. Wer eine Racial-Standpoint-Theorie vertritt, muss den Standpunkt von einer Kultur A auf eine Kultur B als wertlos für die Kultur B bezeichnen. Schwarze können nichts über sich selbst von einem Weißen lernen, da der Weiße die Schwarzen immer nur durch eine weiße rassistische Vorurteilsbrille betrachtet. Wir Weißen seien alle Rassisten, wurde einst auf einem Rundtischgespräch in Luxemburg gesagt. In diesem Sinne braucht man sich nicht darüber zu wundern, dass auf der vorhin erwähnten Weiterbildung ein Nordafrikaner, ein Schwarzafrikaner und ein Asiat mit dabei waren, damit sie den Standpunkt ihrer Kultur „in Wahrheit“ darstellen. Dass es dabei sehr unterschiedliche nordafrikanische Kulturen gibt und dass ein Tuareg kein Berber und kein Kabyle, usw. ist, war den Organisatoren der Weiterbildung scheinbar nicht in den Sinn gekommen.

Fall Robert Lepage in Kanada

Wenn Frau Jacobs weiter schreibt, dass in den Kommentaren der genannten Journalisten die faschistisch motivierten Bücherverbote mit der Kritik gleichgesetzt wird, die in den sozialen Netzwerken läuft, so weise ich sie auf meine eigenen Beiträge zur Thematik hin, u.a. auf meinen Text „La liberté académique et la liberté d’enseigner sont-elles en danger?“, wo ich nicht die auf den sozialen Netzwerken laufenden Kritiken an Stock anprangere, sondern die konkreten Handlungen von Transaktivisten, die es nötig machten, Stock unter Polizeischutz zu stellen. Wenn Frau Jacobs anderen vorwirft, die Fakten nicht zu prüfen, so sollte sie doch wenigstens selbst darum bemüht sein, to get the facts right. Und es würde mir auch nicht im Traum einfallen, jemanden mit den Nazis zu vergleichen, der auf die antisemitischen Elemente in Shakespeare oder auf die sexistischen Elemente in Faust hinweist und Lehrer kritisiert, die ihren Schülern nicht den Kontext dieser Aussagen erklären, wohl aber jemand, der verlangt, dass man Shakespeare und Goethe aus den Bibliotheken entfernt und sie nicht mehr auf den Schulprogrammen lässt.

Und erwähnt seien hier auch alle jene Künstler, die sich einer Autokritik und einem mea culpa hingeben, die an die Moskauer Schauprozesse erinnern, bloß dass hier der Druck nicht vom Staat kommt, sondern von militanten Gruppen. Als Beispiel sei hier etwa Robert Lepage in Kanada genannt, der dem Druck einiger militanter Amerindianer nachgab.

Zum Schluss: Die Debatte um die Cancel Culture ist keine „Fake Dispute“, wie Frau Jacob sie bezeichnet. Es ist eine Debatte, die geführt werden muss, und insofern sollte man sich darüber freuen, dass es noch Menschen gibt, die wie Seyler, Goetz oder Schroeder den Mut haben, sich zu Wort zu melden und ihre Meinung offen zu sagen. Und man sollte sich auch darüber freuen, dass wir in einem Land leben, in dem auch Frau Jacobs das Recht hat, ihre Ansichten zu äußern. Die Wahrheit, so sagte es schon John Stuart Mill, kann sich nur dann als lebendig erhalten, wenn sie sich ständig mit der Notwendigkeit konfrontiert sieht, sich mit dem Irrtum auseinanderzusetzen.

Wenn dieser Beitrag im Tageblatt und nicht in der woxx erscheint, so weil ich aus vergangener persönlicher Erfahrung weiß – und meine wöchentliche Lektüre bestätigt es –, dass man in der woxx keine Beiträge publiziert, die den Meinungen der Herausgeber widersprechen, zumindest was bestimmte Gebiete betrifft. Das ist ein Fakt. Und wenn es ein bloßes Empfinden sein sollte, so ist es nach Frau Jacobs Logik auch noch immer ein Fakt.

norbert.campagna
19. November 2022 - 18.57

An Intebinni.

Ich habe etwa ein Dutzend wissenschaftliche Bücher zum Thema Cancel Culture gelesen, und Sie Intebinni?
Dann möchte ich auch sagen, dass ich homosexuelle Personen und Transpersonen als Menschen nicht nur toleriere, sondern auch respektiere und dass ich wie jeder vernünftige Mensch es tut, jede Form von Gewalt, physischer oder verbaler Natur, gegen sie verurteile. Nur sehe ich es nicht als homophob an, wenn ein Szenarist keine homosexuelle Rolle in einem Film vorsieht. Dass sexuelle Minderheiten lange diskriminiert wurden ist wahr, leugne ich nicht, aber heisst das, dass sie jetzt darüber entscheiden sollen, was man über sie sagt? Kennen Sie den Fall von Kathleen Stock und heissen Sie das gut, was Transaktivisten gegen sie getan haben? Und Stock ist kein Einzelfall, wie ich aus meinen Lektüren erfahren habe. Überall spielen selbsternannte Vertreter von Minderheiten die Rolle einer thought police.
Ja, man lässt mich an der Uni auf Studenten los, und diese Studenten bewerten mich am Ende eines jeden Semesters. Und diese Bewertungen geben mir den Mut, weiter gegen jede Ideologie, ob von rechts oder links, ob von Homoaktivisten oder Heteroaktivisten weiterzukämpfen und vor der Wissenschaftsfeindlichkeit und Dialogfeindlichkeit der Fanatiker aller Couleurs zu warnen. Und was jemand von mir hält, der nicht einmal den Mut hat, mit seinem Namen zu unterschreiben, müsste mich gleichgültig lassen, aber vor solchen feigen Menschen will ich auch warnen, was ich hiermit tue. Und letzter Punkt: Ausser Unterstellungen und persönlichen Attacken finde ich nichts in Ihrem Text. Sie raten mir, einen Blick in die juristische Fakultät zu werfen. Ich rate Ihnen, überhaupt einmal einen Blick in eine Fakultät zu werfen.

Phil
8. November 2022 - 13.56

"...dass eine demokratische Tyrannei weitaus wirksamer ist als die Inquisition, da in ihr ein derartiger geistiger Druck ausgeübt wird, dass die Menschen nicht einmal mehr auf den Gedanken kommen, etwas Verbotenes zu publizieren."

Eine demokratische Tyrannei... hmm, eine demokratische Tyrannei... das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Was unsere aktuellen Zeiten betrifft ist da was Wahres dran.

Sehr gute Wortwahl, genau wie Ihr Forum-Artikel, Herr Campagna!

Intebinni
7. November 2022 - 16.25

Aiie, da hat sich der Herr Campagna wieder einmal selbst übertroffen. Eins muss ich Ihnen lassen, Sie haben sich viel Mühe gegeben so wirr wie möglich zu argumentieren. Dieser Beitrag zeigt leider wieder einmal dass der Autor nur wenig Verständis von Recht, Menschenrechten und Diskriminierung hat.

Dass die sogenannte "Cancel culture", dh . das Recht Kritik an der Intoleranz auszuüben, vielleicht ein Teil der Meinungsfreiheit ist, scheint dem Herrn Philosophen nicht einleuchten zu wollen. Dass die Leute Rassismus kacke finden und unsere Tintins kritisieren, ist auch wirklich ne Schweinerei. Wou kommen mer dann nach hinn! Naja, ist auch einfacher das alles wegzudenken und Nazivergleiche zu machen. Selbstkritik ist lästig und zu anstrengend, vor allem wenn man ein wichtiger Autor von über 30 Büchern ist! Und dann auch noch Philosophie, Psychologie, Geschichte und English! Such knowledge, much Wow!

"Wenn ein Homosexueller etwas als homophob empfindet, dann ist es auch homophob. Warum sollte dies nicht auch für Freunde der Kunstfreiheit gelten" - autsch...dieser Satz resümiert Ihre Ignoranz sehr gut. Sie vergleichen allen Ernstes Kritik an Rassismus, Homophobie, Xenophobie, Antisemitismus etc. mit Kunstkritik. Das tut schon weh.

Man kann und muss die Aussage von Frau Jacobs in manchen Fällen relativisieren - es ist nicht unbedingt alles homophob - allerdings sollte das ein sehr starkes Indiz dafür sein wenn betroffene Minoritäten, die historisch gesehen Opfer der Diskriminierung waren, etwas als diskriminierend empfinden. Das Empfinden sollte man nicht voreilig ignorieren. Die Geschichte zeigt uns, dass sie meistens Recht hatten. Aber naja, dass Sie die Bedürfnisse und Diskriminierung der LGBTIQ+ Personen nicht verstehen können, das haben sie bereits zu genüge in Ihren jeweiligen Beiträgen bewiesen.

Faszinierend, wie Menschen, die ihre intolerante Ansichten verbreiten wollen, selber nach Toleranz schreien sobald sie kritisiert werden. Das wäre fast amüsant, wäre es nicht so traurig und alarmierend. FYI: Die Menschenrechtskonvention schützt keine intoleranten Meinungen.

Bedenklich, dass die Uni Luxemburg Sie auf junge Leute loosslässt. Ich hoffe dieser Kommentar war nicht zu "woke" für Sie. Keine Angst, ich will Sie nicht cancellen, ich will Sie nur darauf hinweisen, dass Sie sich etwas mehr mit dem Thema beschäftigen sollten. Die Urteile des Menschenrechtsgerichtshof (https://www.echr.coe.int/Pages/home.aspx?p=caselaw&c=fre) können sehr lehrreich sein :) Vielleicht sollten Sie auch einmal bei Ihren Kollegen der juristischen Fakultät vorbeischauen, wäre sicherlich interessant

JJ
12. Oktober 2022 - 10.57

" Wir Weißen seien alle Rassisten,.." Eine neue Art Hexenjagd.Was kommt noch auf uns zu? Winnetou,Tintin,das "Negerlein" in der Weihnachtskrippe,oder vielleicht Robinson Crusoe,der sich einen schwarzen als Hausdiener leistete.Alles zur Ächtung freigegeben? Wie wär's mit " Alle Deutschen sind Nazis" oder "Alle Männer sind Sexisten!" Liegt es vielleicht an unserer Unfähigkeit mit Geschichte fertig zu werden oder zu verallgemeinern? Das Schlimmste wäre sicher,dass man seine Meinung nicht mehr frei äussern dürfte,aus Angst jemandem ans Schienbein zu treten. Seit Äonen schlagen wir uns wegen Rassismus und Religionen die Köpfe ein.Vielleicht sind die Diskussion und die Aufarbeitung der einzige Weg.Nicht Verbot und Zensur.

J.Lichtfous
7. Oktober 2022 - 17.21

Bravo Här Campagna !