Zwar sind – in der Euphorie nach den jüngsten ukrainischen Erfolgen – einige Kommentatoren vorsichtig optimistisch, dass die Ukraine den Krieg bis zum Frühjahr gewinnen könnte. Aber Putins jüngste Aktionen legen nahe, dass Russland sich auf einen langen Zermürbungskrieg einstellt. Nicht nur äußert er immer schrillere Drohungen, sondern er hat auch zwei bedeutende Asymmetrien verringert, die den Konflikt bislang bestimmt haben: Die erste war die Diskrepanz zwischen Russlands „Spezialoperation“ und der Tatsache, dass die ukrainische Reaktion darauf von der ganzen Gesellschaft mitgetragen wird. 300.000 weitere Soldaten mögen zwar nicht ausreichen, um Kiew zu besiegen oder die Ukraine zu besetzen, aber dafür, dass Russland weiterhin im Spiel bleibt.
Auch die internationale Unterstützung war bisher sehr asymmetrisch. Hätte die Ukraine nicht aus Europa und den Vereinigten Staaten militärische Ausrüstung, geheimdienstliche Informationen und wirtschaftliche Hilfe in Milliardenhöhe bekommen, wäre sie schon vor vielen Monaten von der Landkarte verschwunden. Russland hingegen musste sich massiv bemühen, überhaupt nennenswerte ausländische Unterstützung zu erhalten. Aber auf dem jüngsten Gipfeltreffen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit in Samarkand konnte Putin Kollegen wie den chinesischen Präsidenten Xi Jinping, den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, den belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko und den iranischen Präsidenten Ebrahim Raisi für sich gewinnen.
Putins wichtigster Förderer ist Xi, der weiterhin hinter ihm steht. Wie ich bei Gesprächen mit chinesischen Akademikern in diesem Sommer erfuhr, scheint China die Lage in der Ukraine als „Stellvertreterkrieg“ für seinen eigenen Kalten Krieg gegen die USA zu sehen. Eine Lektion aus dem ursprünglichen Kalten Krieg besteht darin, dass, wenn in einem Stellvertreterkrieg beide Seiten genug Unterstützung erhalten, keine Seite jemals die Oberhand gewinnen wird. Während diese Tatsache für die Ukrainer ein Argument für weitere westliche Waffenlieferungen war, könnte sich auch China ermutigt fühlen, seine praktische Unterstützung Russlands (insbesondere durch Fahrzeuge und Halbleiter) zu verstärken.
Die Schrecken der Stellvertreterkriege
Bewegt sich der Konflikt in diese Richtung, wissen wir, was das Ergebnis sein wird: Die Menschen aus Korea, Vietnam, Guatemala, Afghanistan, Angola und vielen anderen Orten kennen den Schrecken der Stellvertreterkriege nur zu gut, die sich über Jahre oder gar Jahrzehnte hingezogen, ihre Volkswirtschaften zerstört und die jüngeren Generationen um ihre Zukunft gebracht haben.
Kurzfristig muss der Westen allerdings dafür sorgen, dass er sich von Putins Eskalationsdrohungen nicht einschüchtern lässt. Wie meine Kollegen beim European Council on Foreign Relations (ECFR) gezeigt haben, kann Europa einen langen Krieg durchhalten – wenn es eine umfassende Strategie dafür hat, die Ukraine mit militärischen Mitteln, Sicherheitsgarantien und wirtschaftlicher Unterstützung zu versorgen.
Für den ersten Punkt hat der ECFR einen „Leopard-Plan“ entwickelt, um die Ukraine mit dringend benötigten Panzerfahrzeugen auszurüsten. Außerdem enthält der Plan konkrete Ideen, wie das Land, wenn seine alten sowjetischen Reserven zur Neige gehen, nach und nach mit mehr westlichen Technologien beliefert werden kann. Dies erfordert aber nicht nur sorgfältige Planung und Ausführung, sondern auch Geld. Angesichts dessen, dass die ukrainische Armee größer als die Bundeswehr (die größte Landeinsatztruppe der EU) ist und dass sie mehr bewaffnete Truppen hat als Großbritannien, Frankreich und Deutschland zusammen, schätzen wir, dass das Land etwa 100 Milliarden Euro Militärhilfe benötigt.
Zweitens braucht die Ukraine, um einem Abkommen zum Ende des Kriegs zustimmen zu können, langfristige und glaubwürdige Sicherheitsgarantien. Dafür haben meine Kollegen ein System entwickelt, das aus formalen Unterstützungszusagen, Konsultationsmechanismen, Lieferversprechen und Sanktionsdrohungen besteht. Diese sollten nur für Gebiete gelten, die vollständig unter ukrainischer Kontrolle stehen, damit die Politiker des Landes zur Einigung auf ein Abkommen keine besetzen Gebiete anerkennen müssen.
700 Milliarden Euro für Europas Sicherheit
Und schließlich muss die wirtschaftliche Unterstützung nicht nur die Kosten zum Wiederaufbau des Landes und seine Integration in die Europäische Union umfassen, sondern auch den laufenden Bedarf des ukrainischen Staats. Momentan decken die Steuereinnahmen nur 40% der öffentlichen Ausgaben, was eine monatliche Finanzierungslücke von fünf Milliarden Dollar übrig lässt.
Angesichts weiter steigender Kosten des langen Krieges wird die größte Herausforderung darin bestehen, die politische Unterstützung Europas zu sichern. Laut unserer Schätzungen könnte die oben beschriebene Unterstützung der Ukraine über 700 Milliarden Euro kosten. Dies ist mehr als der Wiederaufbauplan der EU nach der Pandemie gekostet hat, der bereits als revolutionärer Schritt betrachtet wurde, obwohl er sich auf alle Mitgliedsländer verteilt. Um diese Unterstützung für einen einzigen Nichtmitgliedstaat aufzubringen, ist heldenhafte politische Führung erforderlich.
Darüber hinaus wird der Winter steigende Energierechnungen und höhere Kosten für wohnbedürftige ukrainische Flüchtlinge bringen. In Italien und Bulgarien gab es bereits Regierungswechsel, und die radikale Rechte wird immer mehr zu einer neuen populistischen Welle. Die europäischen Staatschefs müssen nicht nur ihre Bevölkerungen auf einen langen Krieg vorbereiten, sondern auch weiterhin nach Lösungsmöglichkeiten suchen. Auch wenn sie zeigen, dass sie den ukrainischen Kampf langfristig unterstützen, müssen sie ihre Hilfsleistungen so strukturieren, dass sie die Tür für eine eventuelle Einigung offen lassen. Ein endloser Stellvertreterkrieg ist so ziemlich das letzte Szenario, dass wir anstreben sollten.
* Mark Leonard ist Direktor des „European Council on Foreign Relations“ und Verfasser von „The Age of Unpeace: How Connectivity Causes Conflict“ (Bantam Press, 2021).
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff.
Copyright: Project Syndicate, 2022, www.project-syndicate.org
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