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Standpunkt20 Jahre Internationaler Strafgerichtshof: Zuckerbrot und Peitsche

Standpunkt / 20 Jahre Internationaler Strafgerichtshof: Zuckerbrot und Peitsche
Der Strafgerichtshof in Den Haag ist für die Verfolgung besonders schwerer Straftaten wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen zuständig Foto: AP

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Die erste Sitzung des Internationalen Strafgerichtshofes am 1. Juli 2002 markiert einen wichtigen Meilenstein in dem Bemühen zur Beendigung der Straflosigkeit für Massengräueltaten. Diese ersten Jahre der Aktivität des IStGH in Den Haag (NL) haben gezeigt, wie sehr es seiner bedarf – und was noch zu tun ist, um seine Wirkung zu maximieren.

* Die Autoren

Irwin Cotler war Justizminister und Generalstaatsanwalt Kanadas, Sonderberater des Außenministers für die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs und Vorsitzender des Internationalen parlamentarischen Forums für den IStGH.

Allan Rock war Botschafter Kanadas bei den Vereinten Nationen und ist Mitglied des World Refugee & Migration Council.

Brandon Silver ist Menschenrechtsanwalt und Director of Policy and Projects des Raoul Wallenberg Centre for Human Rights.

Das Konzept internationaler Gerichtsbarkeit stieg wie ein Phönix aus der Asche des Holocaust auf und wurde erstmals 1945 bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen gegen führende Nazis in die Praxis umgesetzt. Die Verlagerung des Fokus auf den Einzelnen – den schutzbedürftigen Zivilisten und den Strafe verdienenden Täter – markierte eine entschiedene Abkehr von einem System, in dem Staatsoberhäupter eine Lizenz zum Töten oder Foltern aller innerhalb ihrer Landesgrenzen befindlichen Menschen hatten. Die Idee strafrechtlicher Verantwortung für Massengräueltaten stellte alte Vorstellungen unbegrenzter staatlicher Souveränität und das diese beseelende Ethos, dass Macht Recht setzt, in Frage.

Die Bemühungen, die für Massengräueltaten Verantwortlichen zur Verantwortung zu ziehen, haben sich in verschiedenen Formen fortgesetzt, darunter durch vom UN-Sicherheitsrat ad hoc eingerichtete Sondergerichtshöfe. Doch als permanentes Forum, um den Opfern Gerechtigkeit zuteilwerden zu lassen und die Täter zur Verantwortung zu ziehen, ist der IStGH das Kronjuwel des derzeitigen Systems und stellt weiterhin die größte Hoffnung für die internationale Gerichtsbarkeit dar.

Eine Ergänzung des IStGH ist das internationale Sanktionssystem, das globale Rechtsnormen (sogenannte Magnitsky-Gesetze) umfasst, die Strafmaßnahmen – Reiseverbote, die Beschlagnahme von Vermögen, finanzielle Betätigungsverbote und, in Kanada, die Vermögensverwertung – gegen für Menschenrechtsverstöße verantwortliche Personen zulassen.

Haftbefehle und Sanktionen

Der IStGH und zielgerichtete Sanktionen sind jeweils schon für sich bedeutsam, doch um ihr volles Potenzial zu entfalten, sollten sie sich gegenseitig stützen. So sollte das Sanktionssystem gegen jeden eingesetzt werden, der sich einem IStGH-Haftbefehl entzieht, oder gegen ausländische Amtsträger aus Unterzeichnerstaaten des Römischen Statuts, die den IStGH nicht bei der Erfüllung seiner Mission unterstützen.

Eine der größten Herausforderungen für den IStGH war bisher, dass Haftbefehle nicht durchgesetzt wurden. Der ehemalige sudanesische Präsident Omar al-Bashir unternahm jahrelang ungehindert (über 100) Auslandsreisen in verschiedene Länder, obwohl ein Haftbefehl auf ihn ausgestellt war. Das Versäumnis, Bashir zu verhaften, schwächte die Glaubwürdigkeit des IStGH und untergrub seine Abschreckungswirkung erheblich. Doch wenn das Bild eines ungehindert durch die Welt fliegenden Bashir durch eines ersetzt würde, das einen Präsidenten in Handschellen am Flughafen zeigt, würde das Narrativ der internationalen Gerichtsbarkeit ganz anders auszusehen beginnen.

Die Unterzeichnerstaaten des Römischen Statuts sind verpflichtet, mit dem IStGH zusammenzuarbeiten. Doch was ist, wenn sie sich weigern – so wie im Falle Bashirs? An dieser Stelle kommen die Sanktionen ins Spiel. Sie können gegen jene verhängt werden, die sich einem IStGH-Haftbefehl entziehen, und ebenso gegen ausländische Amtsträger, die ihrer Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit dem IStGH nicht nachkommen.

Wir wissen, dass zielgerichtete Maßnahmen staatliche Amtsträger überzeugen können, Kurs zu ändern, weil wir bereits in der Vergangenheit erlebt haben, wie „Zuckerbrot“ und „Peitsche“ – Anreize und Zwangsmaßnahmen – zusammenwirkten, um Verhaftungen sicherzustellen. So überzeugte etwa das Versprechen einer letztlichen EU-Mitgliedschaft die serbische Regierung, Ratko Mladić auszuliefern, um diesen in Den Haag wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord im Bosnienkrieg der Jahre 1992-95 vor Gericht zu stellen.

Konsequentes Handeln

In ähnlicher Weise führte das Angebot der US-Regierung einer Belohnung von fünf Millionen Dollar für die Verhaftung von IStGH-Flüchtlingen dazu, dass sich der Milizenführer Bosco Ntaganda 2013 dem Gericht stellte, sowie zur Verhaftung und Ergreifung verschiedener anderer Flüchtlinge aus Ruanda und dem ehemaligen Jugoslawien.

Auch die „Peitsche“ – etwa in Form der Drohung mit wirtschaftlichem Druck – hat sich als wirksam erwiesen. So bewirkte die US-Drohung, Hilfsleistungen zurückzuhalten, beim damaligen jugoslawischen Präsidenten Vojislav Koštunica 2001 einen „Sinneswandel“, der zur Auslieferung Slobodan Miloševićs an Den Haag führte, wo er vor ein internationales Tribunal gestellt wurde.

Um diesen Einfluss konsequenter zum Tragen zu bringen, sollten Staaten mit bestehender Sanktionsgesetzgebung ihre Gesetze oder Verordnungen ergänzen, sodass diese ein Ersuchen eines IStGH-Anklägers als Auslöser für die Erwägung neuer Sanktionsbeschlüsse mit aufnehmen. Würden alle IStGH-Mitgliedstaaten eine derartige Politik verfolgen, wären Verdächtigen auf der Flucht 123 Länder verschlossen.

Die koordinierte Umsetzung zielgerichteter Sanktionen unter derartigen Umständen würde dazu beitragen, die Menschenrechte und die regelgestützte Ordnung, die diese schützt, zu stärken. Durch Verflechtung der beiden wirkungsstärksten Trends der internationalen Gerichtsbarkeit – Gerichtsverfahren und Sanktionen – können wir dafür sorgen, dass die Bemühungen zur Bekämpfung der Straflosigkeit im Laufe der Zeit stärker und nicht schwächer werden. Die Opfer der weltschlimmsten Verbrechen haben nichts weniger verdient.


Aus dem Englischen von Jan Doolan / © Project Syndicate, 2022