Das Turnier zwischen „Nepo“ und „Ding“, wie sie in der Schachwelt heißen, findet statt, weil der Weltranglisten-Erste und amtierende Weltmeister, Magnus Carlsen aus Norwegen, nachdem er seit 2013 fünf Weltmeisterschaften (wenn auch nicht immer leicht) gewonnen hat, mit 31 Jahren zurücktreten will. (Nepo ist 32 und Ding 29.)
Nepo, der, wie viele russische Athleten, auf die Flagge seines Landes verzichten muss, um international antreten zu können, hat sich eindeutig gegen den Ukraine-Krieg ausgesprochen, und war einer von 44 führenden russischen Schachspielern, die Anfang März einen offenen Brief an Präsident Wladimir Putin unterschrieben haben: „Wir sind gegen jegliche militärische Einsätze auf dem Gebiet der Ukraine und setzen uns für einen sofortigen Waffenstillstand sowie eine friedliche Beilegung des Konflikts über den Weg des Dialogs und der diplomatischen Verhandlungen ein“, stand dort. „Diese Katastrophe zu sehen, die heute zwischen unseren Völkern stattfindet, ist für uns unerträglich schmerzhaft.“
Eiserne Konzentrationsfähigkeit
Nur wenige Kommentatoren oder Spitzenspieler hatten erwartet, dass Carlsen auf seinen Titel verzichtet, aber die Entscheidung ist verständlich: Bereits heute gilt er (gemeinsam mit dem Russen Garry Kasparow und dem Amerikaner Bobby Fischer) als bester Spieler aller Zeiten. Außerdem hat er eine erfolgreiche Schachplattform aufgebaut. Und mehr noch als vor zehn Jahren erfordert ein Meisterschaftsturnier heute ein außerordentlich gutes Gedächtnis und eine eiserne Konzentrationsfähigkeit – Anstrengungen, die er nicht mehr leisten möchte. (Ironischerweise bedeutet Nepos Name auf Russisch „vergessliche Person“, was nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein könnte.)
Die Vorbereitungen für Zweierturniere im Schach sind immer intensiver geworden, und Computer spielen dabei eine größere Rolle als je zuvor – noch mehr als bei normalen Turnieren für mehrere Spieler „jeder gegen jeden“. Bei den üblichen Turnieren ist es meist den Aufwand nicht wert, gegen einen starken Gegner teure und monatelange computergestützte Untersuchungen durchzuführen. Es gibt zu viele Spiele und zu viele Wettkämpfe, und sobald eine neue Idee erst einmal verwirklicht und sichtbar wurde, ist das Element der Überraschung schnell dahin.
Aber in kurzen Weltmeisterturnieren (das letzte zwischen Nepo und Carlsen 2021 bestand aus 14 Spielen) kann ein früher Sieg einen enormen Effekt haben, da der Führende alle verbleibenden Spiele auf Remis spielen kann. Auch wenn ein einziger Sieg noch nicht entscheidend ist, bedeutet er viel mehr als in einem normalen Turnier, in dem, um weiterzukommen, normalerweise deutlich mehr Siege als Niederlagen erforderlich sind.
Nepo und Ding
2021 hat Carlsen die Weltmeisterschaft am Ende deutlich gewonnen, aber erst, als sein Gegner, der erstmals antrat, nach dem Verlust des sechsten Spiels einbrach. Bei den ersten fünf Spielen stand Nepo, der seine neuen Ideen am russischen Supercomputer Zhores testen konnte, zweimal kurz vor einem Sieg, konnte sich aber gegen Carlsens brillante Verteidigung letztlich nicht durchsetzen.
Für das Match zwischen Nepo und Ding im nächsten Jahr wird Ding wohl viel Hilfe aus der chinesischen Tech-Gemeinde bekommen. Ob Nepo aus Russland ähnlich unterstützt wird, ist hingegen unklar – obwohl es zu Putins Weltsicht gehört, dass Russland im Schach wieder ganz oben sein sollte. Allerdings hat Nepo aus seinem Titelkampf gegen Carlsen von 2021 immer noch viel Material verfügbar – das er nutzte, um das letzte Kandidatenturnier zur Bestimmung des Herausforderers in Madrid haushoch zu gewinnen.
Durch Carlsens Rücktritt bekam Ding, der Zweitplatzierte von Madrid, das Recht, beim Titelkampf mitzuspielen. Ding, der durchaus ein besserer Spieler sein könnte als Nepo, kam viel zu schlecht vorbereitet zum Kandidatenturnier, da er seit Beginn der Covid-19-Pandemie nicht mehr frei reisen konnte.
Aber der leise sprechende chinesische Kandidat hat kürzlich Hikaru Nakamura besiegt, der seine amerikanischen Fans damit bitter enttäuscht hat. Nakamura, der sowohl bei seinen Spielzügen als auch im Gespräch für seine Schnelligkeit bekannt ist, wurde mit 1,5 Millionen Followern zum Twitch-Superstar, indem er hochkarätiges simultanes Blitzschach spielte und sich auf intelligente Weise zu allen möglichen Themen äußerte – über Dating, über KI, oder welches Auto man kaufen sollte.
Begeisterung für Online-Schach
Sein Spiel gegen Ding in der letzten Runde hätte er lediglich unentschieden beenden müssen, um seit Fischer 1972 zum dritten Amerikaner zu werden, der an einem Weltmeisterschaftsturnier teilnimmt. Fischer hatte damals mit seinem Sieg über Boris Spassky Schlagzeilen gemacht, indem er die Hegemonie des russischen Schachapparats beendete. Obwohl Nakamura ziemlich eigenständig ist, kann man sich vorstellen, dass Google ihm mit seiner KI-Wundermaschine DeepMind geholfen hätte – wenn er bei der Weltmeisterschaft auf einen russischen Gegner gestoßen wäre.
Schach wird weltweit immer beliebter. Insbesondere die Begeisterung für Online-Schach ist während der Pandemie explodiert. Seitdem hat sie zwar etwas nachgelassen, aber die Mitgliederzahlen bei den führenden virtuellen Spielseiten zeigen, dass das Interesse immer noch viel höher ist als vor drei Jahren. Sicherlich hat dazu auch der Erfolg der Serie „Das Damengambit“ beigetragen, die bei ihrer Ausstrahlung 2020 die erfolgreichste Netflix-Produktion aller Zeiten war und einen Emmy als beste Miniserie bekam. Obwohl sie nicht unbedingt für Kinder ist, hat sie eine neue Generation junger Mädchen für das Spiel begeistert, wie es Jennifer Shahade in ihrem aufschlussreichen neuen Buch „Chess Queens“ beschreibt.
Übrigens sage ich voraus, dass Ding der nächste Weltmeister wird, obwohl es dann länger gedauert hätte, als ich 2018 vermutet hatte. Verliert er, würde das nicht nur etwas über den Charakter seines Gegners aussagen, sondern auch, dass die chinesischen Supercomputer vielleicht nicht so fortgeschritten sind, wie wir glauben.
* Kenneth Rogoff, ehemaliger Chefökonom des Internationalen Währungsfonds, ist Professor für Ökonomie und Gesellschaftspolitik an der Harvard University.
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff
Copyright: Project Syndicate, 2022. www.project-syndicate.org
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