Der Volkssouverän verfällt zunehmend der Abstinenz und dem Wankelmut

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Nach jedem Wahlgang kommt die Zeit der Besserwisser. Obwohl niemand, und schon gar nicht die Demoskopen, den Ausgang der Kammerwahl vorausgesehen hatte, wird nunmehr heftig über Ursachen und Auswirkungen spekuliert, so ein langjähriger Akteur und Beobachter der nationalen Politik.

Von Robert Goebbels, ehemaliges Regierungsmitglied und früherer Europaabgeordneter der LSAP

Der „Wählerwille“ wird interpretiert, verbogen und verdreht, wie es jedem „Analysten“ zu seinem Baukasten passt.

Dabei wird beharrlich ignoriert, dass der Wählerwille nicht aus einem Guss ist.
Es gab am 14. Oktober 259.887 eingeschriebene Wähler. Trotz Wahlpflicht beteiligten sich bloß 233.014 Bürger. Davon stimmten 16.837 weiß oder ungültig. Der „Wählerwille“ manifestierte sich also durch 216.177 Stimmzettel. Viele der rund 82% der eingeschriebenen Wähler nahmen ihr Stimmrecht nicht voll wahr. Bei 3,7 Millionen möglichen Stimmen wurden rund 260.000 nicht genutzt.

Wie ist der durch viel Abstinenz geprägte „Wählerwille“ zu interpretieren?

Das geltende Wahlrecht verkompliziert jede objektive Interpretation. Die CSV bleibt zwar mit Abstand die stärkste Partei, selbst wenn sie insgesamt am meisten Stimmen verlor. Dennoch konnte sie in allen Bezirken von der Lotterie der Restsitze profitieren. Selbst wenn nahezu 29% der Wähler an den Wiseler-Plan glaubten, vertrauten 7 von 10 Wählern der CSV offensichtlich nicht.

Den „Souverän“, von dem die Politologen faseln, gibt es nur in einer verwirrenden Vielfalt.

Addition vieler „Willen“

Rechnet man die je nach Bezirk verschieden gewichteten Stimmen in Wähler-Einheiten um, waren am Wahltag die Abstinenzler die stärkste Gruppe!

Von den effektiven Wählern sprachen sich 28,31% für die CSV aus, 17,6 % für die LSAP, die beide als die „Wahlverlierer“ gelten. Die DP kam auf 16,91%, die Grünen auf 15,12%, die ADR auf 8,28%, die Piraten auf 6,45% und die Lénk auf 5,49%. Die KP musste sich mit einem Wähleranteil von 1,27% begnügen, die Pseudo-Demokraten mit 0,29% und die Konservativen mit 0,27%.

Was letztlich zählt, ist die Arithmetik der Sitzverhältnisse. Mehrheit ist Mehrheit. Der erste Kanzler der Bundesrepublik wurde mit einer Stimme Mehrheit gewählt. Es war seine eigene Stimme, die den Ausschlag gab.

Man darf davon ausgehen, dass die zweite Regierungserklärung von Xavier Bettel mit 31 gegen 29 Stimmen gebilligt wird. Die künftige Regierung bleibt somit anfällig für jeden vereinzelten Erpressungsversuch innerhalb ihrer knappen Mehrheit.

Als 1979 der sich als Vertreter der „Arbeiterklasse“ ausgebende Abgeordnete Jean Gremling die LSAP verließ und den „Parti Socialiste Indépendant“ begründete, musste sich die Regierung Thorn-Berg recht mühselig mit bloß einer Stimme Mehrheit zum Wahltermin retten.

Wobei Thorn wie nunmehr Bettel dank dem Prestige des Staatsminister-Amtes die DP vor dem vorhergesagten Absturz retteten.

Eine enge Mehrheit verschafft oft mehr Kohäsion, kann aber auch zur gegenseitigen Blockade der Koalitionspartner führen.

Die Grünen waren bei der ersten Bettel-Schneider-Regierung übermäßig gut bedient worden. Obwohl sie damals von 7 auf 6 Sitze zurückfielen, durften sie 4 Regierungsmitglieder stellen. Mit nunmehr 9 Parlaments-Sitzen wird die Braz-Truppe noch machtgeiler. Obwohl die Grünen außer Gambia II keine Option haben, derweil sowohl die DP wie die LSAP notfalls eine Mehrheit mit der CSV bilden könnten.

Der „Wählerwille“ könnte noch andere Regierungs-Konstellationen bewirken.

Und die „Gleichberechtigung“?

Für die Wahlen hatten die Parteien dank einer von Gleichberechtigungs-Ministerin Lydia Mutsch getragenen Reform eine Rekordzahl an Kandidatinnen aufgeboten: 249 Frauen und 298 Männer.

Doch die Wählerinnen und Wähler dankten es weder Lydia Mutsch noch sorgten sie für einen besseren Ausgleich der Geschlechter im Parlament. Direkt gewählt wurden bloß 12 Frauen gegenüber 48 Männern. Man könnte am „Wählerwillen“ verzweifeln …
Wahlen schaffen Tatsachen. Die Gewinner feiern sich. Die Verlierer versprechen Erneuerung. Obwohl es oft nur geringfügige Stimmverschiebungen sind, welche Verluste oder Zugewinne verursachen.

Das Wahlresultat räumte mit einer gängigen „Politik-Weisheit“ auf. Nämlich dass eine „Oppositionskur“ automatisch zu Sitzgewinnen führt. Die „Oppositions-Regenerierung“ hat jedenfalls der CSV nur saftige Verluste gebracht. Ohne das Wahlgesetz, das mit den Restsitzen die jeweils größte Partei bevorteilt, wäre der Absturz noch bitterer gewesen.
Als die LSAP nach der verlorenen Wahl von 1999 in die Opposition wechselte, errang sie 2004 bloß einen einzigen Sitzgewinn. Etienne Schneider und seine Mitstreiter sind deshalb gut beraten, eine Erneuerung der Partei von der Regierungsbank zu wagen. Ginge die LSAP in die Opposition, wäre sie im Parlament durch 10 sicherlich verdienstvolle, aber eher ältere Männer vertreten.

Die notwendige sozialistische Erneuerung muss deshalb mit der Regierungsbildung beginnen. Die LSAP muss junge Talente, an denen sie eigentlich reich ist, in die Verantwortung berufen. Vor allem Frauen.

Doppelwahl 2023

Abgesehen von der wichtigen Europa-Wahl 2019 sind die nächsten nationalen Wahlen normalerweise 2023. Erschwerend für alle Parteien wird in fünf Jahren das Zusammenfallen der Wahlen für das Parlament und für die Gemeinden. Die Kommunen sind gewöhnlich die Startrampe für neue Talente, etwa Dan Biancalana oder Georges Mischo. Doch während 2023 eine neue Regierung gebildet wird, treten die neuen Schöffenräte erst 2024 an. Umso schwieriger wird bei allen Parteien die parteiinterne Erneuerung.

Die Politik ist nicht nur europaweit im Umbruch. Die traditionellen Volksparteien verlieren überall, nicht nur in Luxemburg. Extremistische Parteien von rechts wie links haben Zulauf. Vor allem kommt es zu einer Zersplitterung der Parteienlandschaft, welche die Bildung stabiler Regierungen immer schwieriger macht.

Ist es wirklich der Wille der Wähler, die demokratische Grundordnung unserer Gesellschaften durch reine Protest-Wahlen zu beeinträchtigen?

roger wohlfart
3. November 2018 - 19.31

Die Piraten bedienen sich wo sie können und wie es ihnen beliebt.

roger wohlfart
3. November 2018 - 19.30

Was bleibt der CSV denn noch, wenn sie das C aus ihrem Namen rausnimmt? Bin übrigens der Meinung, dass mehr Gutmenschen keiner Religion angehören als man vermutet.

Jacques Zeyen
31. Oktober 2018 - 22.39

Und diese unantastbare CSV-Überlegenheit schrumpft mit dem Verschwinden der älteren christlichen Konservativen.Man hat CSV zu wählen wie immer,egal welches Programm sie bietet. "Mit uns bleibt die Kirche im Dorf" oder " Ich bin "Fir de Choix" (Wiseler mit einem Luftballon "Fir de Choix" vor der Kamera) sind keine überzeugenden Themen mehr im 21.Jh. Noch einmal empfehle ich das "hohe" C aus dem Namen zu streichen.Es gibt noch andere Gutmenschen die keiner Religion angehören und vielleicht trotzdem mit Programmpunkten der Partei einverstanden wären. Wer weiß.

roger wohlfart
31. Oktober 2018 - 14.00

Das, Herr Goebbels, ist gelebte Demokratie! Da können Sie noch so lange schreiben und analysieren, wie Sie wollen.

Grober J-P.
31. Oktober 2018 - 13.10

Früher hatte man noch Prinzipien und klare Programme, heute hat jede Partei eine Supermarkt Strategie. Sogar bei den Piraten kann man rotes wie braunes "Gemüse" pflücken*