„We don’t need no education“: „Sex Education“ zeigt Jugendliche auf dem Weg zu sich selbst

„We don’t need no education“: „Sex Education“ zeigt Jugendliche auf dem Weg zu sich selbst
Asa Butterfield in der Rolle von Otis Milburn und Maeve Wiley (Emma Mackey) erkennen eine Nachfrage und schaffen ein Angebot: Do-it-yourself-Sexkunde

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„Do you like my tits?“, „Let’s do it from behind“, „Are you going to come?“ Hilfe! Das kann doch nur ein Porno werden! So die Befürchtung nach den ersten paar Sekunden der Netflix-Serie „Sex Education“. Tatsächlich dreht sich hier fast alles – wie der Titel es bereits vermuten lässt – um Sex. Die britische Serie ist jedoch eine überaus lustige und herzhafte Hymne ans Leben und zeigt, wie wichtig es ist, seinen eigenen Weg und sich selbst zu finden. In einer Gesellschaft, in der alles schnell gehen muss, sodass man manchmal den Überblick verlieren kann.

Von Sara Goerres

Bereits in der ersten Folge wird klar, dass es hier um mehr geht als obszönes Geschwätz. Ein Jugendlicher fakt einen Orgasmus, weil heutzutage häufig lieber gelogen wird, statt Probleme anzusprechen. Was folgt, sind acht Folgen, in denen der Umgang von Jugendlichen und Erwachsenen mit Sexualität beleuchtet wird.

Bei den Protagonisten handelt es sich um junge Heranwachsende, die viel mehr sind als nur geile Teenies. Man kann sie nicht so einfach in Schubladen stecken. Oberflächlich nimmt man zwar Klischees wie den Gemobbten, den Schwulen, den Streber, die Tussi oder den Sportler wahr. Allerdings sind sie alle vielschichtig und auf ihre Art sehr authentisch, was die Serie so grandios macht und von anderen Teenie-Soap-Operas stark abgrenzt.

Die Hauptfigur Otis Milburn, verkörpert durch Asa Butterfield, dessen Mutter Jean Milburn (Gillian Anderson) Sexualtherapeutin ist, ist 17 Jahre alt und hat einige Komplexe. So bringt er es beispielsweise nicht über sich, seinen Penis zu berühren. Zusammen mit seinem besten Freund Eric, gespielt von Ncuti Gatwa, stellt er nach den Sommerferien fest, dass alle in ihrer Schule „es“ bereits getan haben. Außer ihnen beiden.

Risiken und Nebenwirkungen

Obwohl viele Mitschüler bereits mehr sexuelle Erfahrungen gesammelt haben als Otis, wissen sie im Gegensatz zu ihm trotzdem nicht wirklich Bescheid. Die Ratlosigkeit zahlreicher Gleichaltriger bewegt Otis und Maeve (Emma Mackey) dazu, eine Art Sex-Therapie in der Schule anzubieten. Auslöser hierfür war ein Zufall, durch den die zwei in der Schultoilette einem Mitschüler helfen, der zu viele Viagra-Pillen genommen hat. Wie er nehmen auch andere Mitschüler die gebotene Hilfe dankend an.

Neben dem ganzen Bettgeflüster geht es in der Serie aber auch um Freundschaft, Familie, die wahre Liebe und viele weitere Risiken sowie Nebenwirkungen, die das Leben so birgt. Otis und Eric verbindet eine sehr enge Freundschaft, die es zu pflegen gilt. Jackson (Kedar Williams-Stirling) verliebt sich in Maeve. Eine andere Person mogelt sich durch die Highschool und hat ihren Weg noch nicht so richtig gefunden. Ein Junge erkennt langsam, aber sicher, dass er Männer liebt.

Ein lesbisches Paar ist sich nicht ganz einig über die Erziehung seines Sohnes, während ein afro-amerikanischer Vater einsieht, dass sein Sohn mehr Mut an den Tag legt, als er es je getan hat. Auch trifft der Zuschauer auf eine Mutter, die, weil sie betrogen wurde, Bindungsängste entwickelt hat.

Nicht nur omnipotente Sexmonster

Wie kann man mit dem Tabu-Thema Sex umgehen, ohne es ins Lächerliche zu ziehen und ohne eine Serie zu sehr wie einen Porno wirken zu lassen? „Sex education“ überzeugt durch Authentizität und realistische Darstellungen in Bezug auf den Umgang mit schwierigen Thematiken. Es werden keine omnipotenten Sexmonster gezeigt, sondern die Höhen und Tiefen der einzelnen Charaktere beleuchtet. Demnach wird die Evolution der verschiedenen Personen veranschaulicht und der Entwicklung ihrer eigenen sexuellen Identität Zeit und Raum gelassen.

Dadurch, dass Otis, der gewissermaßen ein Antiheld ist, die Hauptfigur der Serie darstellt, wird dem Zuschauer eine Person an die Hand gegeben, die gar nicht erst vorgibt, alles vollends im Griff zu haben, aber den Mut hat, Dinge anzupacken. Dies macht die Serie umso menschlicher und schafft Identifikationspotential. Wenn auch manche Szenen etwas überdreht wirken, so schafft es „Sex education“ immer wieder, nach kurzem Abheben wieder auf den Boden der Tatsachen zu gelangen.

Was den im Serien-Titel enthaltenen Bildungsaspekt anbelangt, so steht der Austausch, der in unserer Gesellschaft leider zusehends verloren geht, an erster Stelle. Gerade sexualitätsbezogene Inhalte verebben für gewöhnlich allzu oft in leisem Kichern und Erröten. In „Sex education“ wird im Gegensatz dazu sehr offen damit umgegangen. Manchmal fast zu offen, denn verschiedene Figuren kennen scheinbar überhaupt keine Hemmungen und Grenzen, wie die Mutter von Otis, die Gillian Anderson hervorragend spielt.

Die Serie hebt hervor, wie wertvoll und wichtig Kommunikation auf der Peer-to-Peer-Ebene ist. Die Hauptfigur Otis übernimmt eigentlich die Aufgabe eines Sexualkunde-Lehrers oder eines Vertrauenslehrers und stößt auf zahlreiche offene Ohren, vor allem aber auf Menschen mit Gesprächsbedarf.

Ups and Downs

Im Laufe der ersten Staffel werden nicht nur die Minuten beim Sex, die meistens in Filmen perfekt, geschmeidig und leicht wirken, gezeigt. Vielmehr beschäftigt sich die Serie mit den Hintergründen und dem, was bei „Verkehrspannen“ oder nach dem Sex passiert und sonst fast nie zur Sprache kommt. Einen Orgasmus zu faken, Sex im Auto zu haben, weil man Angst hat, der anderen Person zu zeigen, wo man lebt, keine für beide befriedigende Stellung zu finden, unbedingt sein erstes Mal haben zu wollen … all das kommt hier auf den Tisch.

Auch die wirklichen dunklen Seiten spielen eine Rolle, wie zum Beispiel die Entscheidung, eine Abtreibung vorzunehmen, oder auch die Phobie davor, sich selbst anzufassen. Neben diesen harten Momenten gibt es umso mehr Gelegenheiten, bei denen man einfach nur losbrüllen kann vor Lachen. Einerseits durch die ausgezeichnete Leistung der Schauspieler, wie beispielsweise Ncuti Gatwa, der in seiner Rolle als Eric besonders heraussticht.

Es gibt unzählige Szenen aus „Sex Education“, die man zitieren könnte, um die Komik und den Humor der Serie zu verdeutlichen. Da gibt es beispielsweise Aimee, gespielt von Aimee Lou Wood, die gar nicht weiß, was sie eigentlich im Bett mag. Otis gibt ihr den Tipp: „Mach’s dir selbst“, worauf diese verdutzt reagiert und erwidert, so was mache sie eigentlich nie. Etwas später begleitet das Publikum Aimee auf ihrer Reise zu sich selbst. In ihrem Schlafzimmer fliegt sie mit wohltuenden, stimulierenden Kissen in eine andere Welt. Man lacht nicht über sie, sondern mit ihr.

„Sex Education“ als gewöhnliche Teenie-Serie einzustufen, wäre ein großer Fehler und bei dieser wahnsinnig witzigen und guten ersten Staffel muss man sich fragen, ob eine Fortsetzung noch einen drauf setzen können wird.