Utøya 22. Juli: 72 Minuten menschliche Grausamkeit in Echtzeit

Utøya 22. Juli: 72 Minuten menschliche Grausamkeit in Echtzeit

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In «Utøya 22. Juli» zeigt Erik Poppe auf eine schockierende Art und Weise in Echtzeit (das Attentat dauerte 72 Minuten) das Schicksal der etwa 500 Jugendlichen, die in einem Sommerferienlager von dem Rechtsextremisten Anders Breivik angegriffen wurden. 69 kamen dabei ums Leben.

Der Film eröffnet mit dokumentarischen Aufnahmen aus Oslo, wo der gleiche Attentäter mit einer Autobombe acht Leute in den Tod riss. Kurz darauf folgen wir in einem einzigen Kamera-Take (wie in «Birdman» oder «Victoria») der jungen Kaja, die anfänglich in einem an Michael Haneke erinnernden Fiktionseffekt die Kamera anzureden scheint, bevor wir feststellen, dass sie bloß ihre Mutter am Telefon zu beruhigen versucht – wir sind in einem Ferienlager, was soll hier schon passieren.

Der Film gibt dann einen kurzen Einblick in den Alltag der Figuren (Kaja streitet sich mit ihrer Schwester Emilia, diskutiert über Politik mit Petter, der sie politisch neckt und so verführen möchte, und begegnet Magnus, der später fast weinend zugibt, er wäre doch bloß hierhergekommen, um Mädchen aufzureißen). Die Erzählung verweilt aber nicht allzu lang in ihrer Konturierung des Alltagslebens der Figuren – sie gibt uns nur einen Snapshot der Normalität, um dann für 72 Minuten das blanke Entsetzen hervorzurufen.

Dokumentarisch und ungefiltert

Diese fast dokumentarische Wahl war riskant, da Poppe so potenziellen Raum für eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber den Figuren lässt. Durch diese Entscheidung ist die Empathie, die der Film aufgrund der Nähe zu seinen Figuren entstehen lässt, aber (fast) keineswegs durch erzählerische Kniffe künstlich aufgebaut. Wir wissen nur sehr wenig über die Figuren, diesen schematischen Kenntnissen werden aber durch das herausragende Spiel der Schauspieler (besonders Kaja (Andrea Berntzen) ist grandios) und die Kameraperspektive so viel Tiefe verliehen, dass der Zuschauer den Film nicht unversehrt verlässt.

Das Zusammenwirken von Recherche und Fiktion (das Drehbuch stützt sich auf Zeugenaussagen) bewirkt, dass man diese eigentlich unsäglichen Ereignisse auf eine Art und Weise von innen miterlebt, wie sie ohne die Ästhetisierung und die Strukturierung der Fiktion nicht ermöglicht hätte werden können. Durch die Wahl, die Perspektive von Kaja einzunehmen, versteht man die Unwissenheit, das Chaos, die Panik, die Unmöglichkeit, sich gegen diesen Einzeltäter aufzulehnen. Man fiebert mit, weiß, dass jede Handlung eine unmögliche Wahl ist – Kaja muss quasi in jeder Minute eine sogenannte «Sophie’s Choice» treffen; ihr Unterfangen, ihre Schwester im Chaos zu suchen, ist wagemutig, verrückt und zutiefst menschlich. Das tiefe Mitfühlen dieser Figur, die zwischen Überlebensinstinkt und Hilfsbereitschaft, Egoismus und Empathie pendelt, macht die letzten Minuten dieses krassen, kompromisslosen, mutigen und wichtigen Films noch unausstehlicher. «Utøya 22. Juli» ist nichts für schwache Nerven, wühlt einen psychisch und körperlich auf, ist aber gerade deswegen einer der relevantesten Filme der diesjährigen Berlinale gewesen.