In der Black Box der Depression: „Versetzung“ im Kapuzinertheater malt ein dunkles Bild mentaler Erkrankung

In der Black Box der Depression: „Versetzung“ im Kapuzinertheater malt ein dunkles Bild mentaler Erkrankung

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Max Claessen inszeniert ein (teilweise) sehr witziges Stück über ein sehr ernstes Thema: Thomas Melles „Versetzung“ verhandelt in fiktionaler Form die manische Depression seines Autors, die bereits im Zentrum dessen Autofiktion „Die Welt im Rücken“ stand. Mithilfe von reichlich Überspanntheit wird der Zuschauer in die Tiefen eines entstellten Weltbildes eingetaucht, ohne dass Claessen der Schwarz-Weiß- Malerei verfällt.

Wer die nächsten zwei Wochen in eines der beiden öffentlichen Stadttheater geht, wird unumgänglich mit dem Thema der psychischen Krankheit konfrontiert. Denn neben „Versetzung“ von Thomas Melle läuft in exakt einer Woche auch Thorsten Lensings vierstündige Adaptierung von David Foster Wallaces Meisterwerk „Infinite Jest“ an. Beide Werke vereint die Gegebenheit, dass sich ihre Autoren mit dem Thema Depression bestens auskennen, da sie es – im Falle von DFW ein Leben lang – empirisch durchwälzt haben und so der fiktionale Mantel teilweise der Transzendierung und Universalisierung persönlicher Umstände dient.

Im Falle von „Versetzung“ wird Melles manische Depression in einen Kontext gesetzt, in dem der Nährboden für psychische Erkrankungen besonders fruchtbar scheint: die Schule. Denn einerseits sammeln hier junge Leute erste Erfahrungen, was immer auch bedeutet, dass hier erstes Scheitern gelernt, eingesteckt, verarbeitet werden muss. Und andererseits handelt es sich bei der Schule um einen potenziell schrägen Mikrokosmos, der, wie im Falle von Melles Stück, von Problemkindern (Timo Wagners Leon) und Problemeltern (Marc Baums sehr lustiger Lars Mollenhauer, dessen paranoides Plädoyer gegen die Impfung sich durch die Inszenierung zieht) durchdrungen ist. Wenn es dann nicht gerade Musterschüler (Rosalie Maes’ Sarah) mit Problemeltern (Nicole Max’ etwas hyperbolisch gespielte Nymphomanin) oder die werten Arbeitskollegen sind, die wohl den Titel von Freuds Werk „Die Psychopathologie des Alltages“ exemplifizieren möchten.

Inmitten dieses ganz normalen Wahnsinns finden wir Hauptfigur Roland Rupp (ein ganz ausgezeichneter Nickel Bösenberg) wieder. Rupp ist ein beliebter, charismatischer Lehrer, der die nötige Portion Dunkelheit mit sich trägt, um die Jugendlichen zu faszinieren, erzieherisch aber sowohl alternativ als auch ernst genug auftritt, um zu Beginn des Stückes von Direktor Schütz (Germain Wagner) dessen Nachfolge angeboten zu bekommen.

Dick aufgetragen?

Als seine Frau Kathleen (Gintare Parulyte) ihm auch noch verkündet, dass sie erwartet, weiß der Theatergänger: Diese Ausgangssituation ist zu schön, um zu brauchbarem Theater zu führen.

Die Rivalitäten der Arbeitskollegen (grandios: Nora Koenig und Benjamin Krüger) und die Spürnasen aufdringlicher Eltern führen dazu, dass Rupps Vergangenheit – und dessen Episode einer manischen Depression – wieder ans Tageslicht gerät, was zur Folge hat, dass sich Rupps Weltbild immer mehr entstellt.

Die szenischen Bilder von Max Claessens rezenten Stücken sind kontrastiv farblos: Bestand die Bühne bei „Tom auf dem Lande“ aus einem tiefen weißen Raum, der eine Projektionsfläche für die Unterdrückung milchiger Begierden darstellte, so wird man diesmal in die Black Box der manischen Depression versetzt. Diese Black Box hat ein Aussichtsfenster zur Außenwelt, in der die Figuren hinein- und hinaussteigen, um sich in Rupps dunklem Innenleben breitzumachen, seine Psyche nach und nach zu kentern. Rupp hingegen selbst gelangt (fast) nie aus dieser Dunkelkammer, deren hintere Wand sich im Laufe des Stückes unvermeidlich nach vorne schiebt, um so Rupps Psyche immer enger, durchlässiger werden zu lassen.

Ist das jetzt nicht ein wenig zu dick aufgetragen?, fragt sich Bösenbergs Hauptfigur an einem Moment des Abends, und schaut nicht nur die zahlreichen Figuren, sondern auch die gesamte Theaterbühne an. Denn einer der intelligenteren Prozesse der Inszenierung will, dass die von Rupp beschriebenen Phänomene der manischen Depression das Verhalten seiner Mitmenschen diktiert, sodass man nie wirklich weiß, ob etwas mit Rupp oder mit der Welt (oder vielleicht mit beiden) nicht stimmt.

Claessen demontiert durch ständige Metareferenzen die banale Dichotomie von Norm und Pathologie, von gesund und krank, von Opfer und Täter. So lässt das Stück drei Interpretationsebenen nebeneinander fungieren und langsam miteinander verschmelzen: Die Figuren sind überspitzt, weil die Schule selbst als Projektionsfläche verstörter Individuen, die durch ihre Autorität nur selten ihr Verhalten legitimieren müssen, wahrzunehmen ist; die Figuren sind überspitzt, weil das Theater dies erlaubt und vielleicht auch verlangt; die Figuren sind überspitzt, weil im Weltbild des Manisch-Depressiven alles zum Drama wird.

Durch die Lautsprecher zwitschert der alltägliche Krach all dieser Störgeräusche, von denen wir nicht mal mehr merken, dass und wie sie uns belasten – ein aufdringliches Handy, eine schrille Klingel, die den Takt der Unterrichtsstunden schlägt, ein nervöser Beat, der vor allem zu Beginn erklingt. Wo man bei „Tom auf dem Lande“ die unterdrückten Lustmaschinen kopulieren hören konnte, so ist hier die Lust stets bloßes Zitat, ist sie reine Verschiebung – siehe Sarahs obszöne Gesten, die nur Lachen oder Unbehagen auslösen zu vermögen. Rupps Erkrankung führt ihn von der Lust zum „Verlust jeglichen Bezugs zum Leben der restlichen Gesellschaft“(*).

So zeigt „Versetzung“, dass psychische Krankheit immer auch ein soziales Produkt ist und wir sie durch die Kategorisierungen der Psychoanalyse nicht nur determinieren, sondern auch lenken. Wenn Bösenberg gen Ende des Stückes auf fast bedrohlich klischeehafte Weise seinen Körper den Verhaltungstypen mentaler Krankheit aufopfert, so tut er dies eigentlich nur, weil es die Gesellschaft von ihm verlangt: „Der Kranke ist der Freak und als solcher zu meiden, denn er ist Symbol des Nichtsinns.“ Aber ist der Nichtsinn nicht vielleicht (so liest sich zumindest Claessens trotz Überlänge sehr intelligente Inszenierung) das, was übrig bleibt, wenn man den Zivilisationslack mal abkratzt?

(*) Die Zitate stammen aus Melles „Die Welt im Rücken“


Info

Nächste Aufführung: am Donnerstagabend um 20.00 Uhr im Kapuzinertheater
Weitere Aufführungen am 12., 14. und 24.11.