Zuckerbrot oder Peitsche? Das sind mögliche Mittel gegen den ständigen Stau in Luxemburg

Zuckerbrot oder Peitsche? Das sind mögliche Mittel gegen den ständigen Stau in Luxemburg

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Zu viel Verkehr, zu wenig Straßen. Nicht nur in Luxemburg sind die Einwohner mit dem allgegenwärtigen Stau konfrontiert. Es lohnt sich also, zu schauen, wie andere Städte dieses Problem angehen.

Der Freitag, 15. Januar 2016, ist den luxemburgischen Verkehrsteilnehmern nicht unbedingt in Erinnerung geblieben. Es war dennoch ein denkwürdiger Tag: Laut TomTom-Traffic-Index wurde an jenem Freitag der Stau-Rekord für das Jahr 2016 gebrochen.

Die Chancen, dass im Jahr 2017 (die neueste Ausgabe des Index wurde noch nicht veröffentlicht) der Rekord-Stau noch größer war, stehen nicht schlecht. Pro Jahr wird die stehende Verkehrslawine um rund vier Prozent länger. Verkehrsbehinderungen, zäh fließender Verkehr, Stop-and-go und dergleichen kosten schon heute den Autofahrer neben Nerven vor allem Zeit. Durch den alltäglichen Stau erhöht sich die Zeit, in der man sich im Auto befindet, um rund ein Drittel. Zu den Stoßseiten am Morgen und gegen Abend muss statistisch rund 70 Prozent mehr Zeit eingeplant werden, als wenn die Straßen frei wären. Freitagabends sind es sogar 81 Prozent.

Laut TomTom, dem niederländischen Hersteller von Navigationssystemen, verbrachte der Verkehrsteilnehmer in Luxemburg im Jahr 2016 rund 153 Stunden im Stau, das sind mehr als 19 Arbeitstage – die nicht von der Arbeitszeit, sondern von der Freizeit abgerechnet werden müssten.

Lesen Sie zum Thema auch unseren Kommentar «Der Urlaub im Verkehr».

In einer Konferenz, die von link2fleet Luxembourg, einem Mobilitäts-Beratungsunternehmen, organisiert wurde, wurden Wege aufgezeigt, wie andere Städte dieses Stauproblem angehen. Dazu hatten die Experten Ghislain Delabie, Strategy Consultant bei Neckermann Strategic Advisors, als Redner eingeladen. «Staus sind ein Problem, das jeden betrifft», sagt Delabie. Doch Luxemburg sei davon stärker betroffen als andere Städte mit einer vergleichbaren Größe. «Im Großherzogtum gibt es so viele Verkehrsstörungen wie in den Millionenstädten Paris oder Brüssel.»

Den Grund dafür sieht er im Erfolg des kleinen Landes, dem boomenden Arbeitsmarkt oder der Tatsache, dass «Luxemburg der Logistik-Hub Europas ist». Das Stauproblem liege auch nicht an einem Mangel in der Infrastruktur: «In vielen anderen Städten gibt es kein so gut ausgebautes Autobahnnetz.»

Das alltägliche Verkehrschaos würde der Lebensqualität nicht unbedingt einen Gefallen tun. «In Singapur ist diese ausgezeichnet», so der Experte. Es sei dann auch kein Zufall, dass der öffentliche Verkehr in dem Stadtstaat zu den besten der Welt gehöre.
Er führte die Wahl des Standortes der neuen Amazon-Zentrale als Beispiel an, wie die schlechte Verkehrssituation der Wirtschaft einer Stadt schaden kann. Der Internetkonzern wird sein Hauptquartier im kleinen Städtchen Crystal City bauen und dafür 5 Milliarden Dollar ausgeben. «Der ausschlaggebende Faktor waren die guten Verkehrsanbindungen, also der Transport», erklärt Ghislain Delabie. «Wenn man 50.000 neue Arbeitnehmer anziehen will, dann zählt auch die Lebensqualität.»

Der Experte zeigt Wege auf, wie andere Städte die Verkehrssituation zu verbessern versuchen. Im Grunde gibt es zwei unterschiedliche Arten: Entweder wird die sanfte Mobilität gefördert oder der motorisierte Individualverkehr durch Regeln oder Steuern unattraktiver gestaltet – also Zuckerbrot oder Peitsche.

City-Maut

Wenn die Nachfrage das Angebot überschreitet, das Angebot aber nicht erhöht werden kann, bleibt nichts anderes übrig, als die Nachfrage zu dämpfen. In anderen Worten: Wenn man das Stauproblem lösen will, aber keine neuen Straßen bauen will, muss dafür Sorge getragen werden, dass weniger Autos unterwegs sind.
Diese Überlegung steht hinter der Einführung einer City-Maut, wie sie in London oder Stockholm umgesetzt wurde. Jeder, der mit seinem privaten Automobil in die Innenstadt einfahren will, muss dafür bezahlen. Die «London congestion charge» beträgt pro Tag knapp über 10 Euro und soll dazu beitragen, dass der öffentliche Nahverkehr, umweltfreundlichere Fahrzeuge, Fahr- und Motorräder oder Schusters Rappen verstärkt genutzt werden.
Auch in der schwedischen Hauptstadt muss seit dem 1. August 2007 für das Ein- und Ausfahren mit dem Auto in die Innenstadt eine Straßenbenutzungsgebühr entrichtet werden. «In Stockholm waren die Auswirkungen ab dem ersten Tag bemerkbar», meint der Autor Ghislain Delabie. Von heute auf morgen sei der Verkehr um 20 Prozent zurückgegangen. Auch wenn der Aufschrei vor der Einführung der Maut groß gewesen sei, hätten Umfragen, die nach der Einführung der Maut durchgeführt wurden, ein anderes Bild gezeigt. Im Jahr 2011 gab sogar die Mehrheit der Autofahrer, die täglich diese «Trängselskatt» (Gedrängel-Steuer) berappen, an, dass
sie dieser Maßnahme zustimmen.
«Die Leute haben die Vorteile erkannt», so Ghislain Delabie. «Es gibt seither weniger Verkehr.» Auch wenn es anfangs große Widerstände gegeben habe, habe sich herausgestellt, dass das «System dann doch nicht so schlecht» sei.

Nachfrageorientierte Parkgebühren

Parkplatznot führt dazu, dass Autofahrer auf der Suche nach einer Abstellmöglichkeit Runde um Runde drehen, bis sie fündig werden. Falls immer ein Parkplatz frei wäre, würden diese Fahrzeuge wegfallen und die Straßen nicht zusätzlich verstopfen, so der Grundgedanke des SF-Park-Projekts, einer neuen Herangehensweise für das Parkplatzmanagement.
Die Lösung ist aber nicht, einfach mehr Parkraum zur Verfügung zu stellen, sondern die Parkgebühren zu erhöhen, wenn die Nachfrage hoch ist, und sie zu senken, wenn es viele freie Stellplätze gibt.
In der Gegend um das Fillmore-Musiktheater müssen die Autofahrer 25 Cent mehr pro Stunde berappen, wenn nur noch 20 Prozent der Parkplätze frei sind, wenn die Belegungsrate unter 30 Prozent fällt, wird der Parkschein um 50 Cent billiger. Im Durchschnitt erhöhten sich die Gebühren von 2 Dollar pro Stunde auf 2,37 Dollar.
Das primäre Ziel – mehr Parkraum zu schaffen – hat das Projekt erreicht. «Auch wenn sowohl die Bevölkerung als auch die Nachfrage nach Parkplätzen während des Zeitraums anstiegen, hat das Projekt die Verfügbarkeit von Parkplätzen drastisch verbessert», so der Parkplatzbetreiber, der diese Behauptung auch mit Zahlen belegen konnte: Während der Woche konnte die Dauer, während deren die Autofahrer auf der Suche nach einem freien Platz durch die Gegend fuhren, um 43 Prozent verringert werden. In einer Umfrage gaben 75 Prozent der Befragten an, dass es nun einfacher sei, einen Abstellplatz zu finden.
Zusätzlich wurde ein knappes Viertel weniger Knöllchen verteilt und die Treibhausgase konnten im Vergleich zum Jahr 2013 um 30 Prozent verringert werden.
Da manche Autofahrer während der Stoßzeiten zu Hause bleiben und abwarten, bis die Parkgebühren fallen, gab es auch weniger Verkehr während der Rushhour. Das Verkehrsvolumen soll zu diesen Zeiten um 8 Prozent gefallen sein. Die «San Francisco Municipal Transportation Agency» konnte sich über steigende Einnahmen freuen. Dank des Projekts soll sie rund 1,9 Millionen Dollar pro Jahr mehr an Parkgebühren eingenommen haben.

Untertunnelung

«Der Mensch vor dem Auto», so könnte man die Politik in Städten wie z.B. Boston zusammenfassen. In den 1960ern wurde in der nordamerikanischen Stadt der «John F. Fitzgerald Expressway» gebaut, der Boston in zwei Teile spaltete und sich in der Folge zu der meistgenutzten Stadtautobahn der Stadt entwickelte. Die auf Stelzen stehende Hochstraße war für 75.000 Autos pro Tag ausgelegt, in Spitzenzeiten nutzen täglich 200.000 diese «Central Artery». Boston drohte im Verkehr unterzugehen.
Doch anstatt die sechsspurige Autobahn weiter auszubauen, entschieden sich die Stadtverantwortlichen, einen anderen Weg zu beschreiten. Sie starteten ein 15 Milliarden teures städtebauliches Großprojekt mit dem Namen «Big Dig».
Die Stadt wurde untertunnelt, heute sind die Fahrzeugkolonnen aus dem Stadtbild verschwunden und unter Tage verlegt.
Der freigewordene Raum wurde dazu genutzt, den öffentlichen Nahverkehr zu verbessern und die Innenstadt grüner zu gestalten. Dort, wo früher die Autos Stoßstange an Stoßstange standen, gibt es heute Radwege und Parks. Das Stadtbild der Stadt hat sich zum Besseren geändert. Ein Nebeneffekt ist, dass die Immobilienpreise in dieser Gegend anzogen.
In der französischen Hauptstadt Paris gibt es Überlegungen, die in die gleiche Richtung zielen. Die 35 Kilometer lange Stadtautobahn, der «périph», ist eine der am stärksten befahrenen Straßen Europas. Auch dieser soll in Zukunft verstärkt unter Tage verlaufen. Der freigewordene Raum könnte dann in einen 35 Kilometer langen Park umgewandelt werden. «Die Überlegungen dazu gibt es schon lange, nun werden Studien dazu erstellt», so der Verkehrsexperte Ghislain Delabie. «Die Pläne konkretisieren sich.»

Vorfahrt für das Fahrrad

Weniger Straßen führen zu weniger Verkehr. Dass dies realistisch ist, zeigt das Beispiel Barcelona. Das Autobahnnetz ist außerordentlich dicht und das Straßennetz hat in der Innenstadt eine Schachbrett-Struktur. Auf den ersten Blick ist dies einem guten Verkehrsfluss zuträglich. Das ist aber nicht der Fall. Die Hauptstadt Kataloniens hat erhebliche Probleme mit der Verkehrsdichte, Staus sind in der Innenstadt eher die Regel als eine Ausnahme.
Sogenannte «Superblocks» sollen nun die Lösung sein. Ein solcher «Superblock» besteht aus rund neun Häuserblocks. Alles, was innerhalb davon liegt, ist eine verkehrsberuhigte Zone und für den motorisierten Individualverkehr gesperrt. Anwohner dürfen zwar in diese Zone einfahren, die Höchstgeschwindigkeit ist jedoch auf 10 km/h begrenzt. Die sanfte Mobilität hat in diesen Zonen Vorfahrt. Parallel dazu sollen 300 Kilometer neue Fahrradwege entstehen und das Bussystem reformiert werden.
Die ersten Erfahrungen zeigten, dass auf den Verkehrsachsen, die um diese «Superblocks» herumführen, der Verkehr nicht drastisch zugenommen hat, wie zu erwarten wäre. Ghislain Delabie bezifferte die Zunahme auf lediglich 2 Prozent. «Innerhalb dieser Blocks ist der Verkehr um 58 Prozent zurückgegangen.»
Neben Barcelona wird auch in der dänischen Hauptstadt Kopenhagen diese Philosophie verfolgt. Bisher war das Straßennetz für den Autoverkehr ausgelegt. Um am einfachsten von A nach B zu kommen, drängte sich das Auto praktisch auf. Radfahrer mussten sich mit Umwegen, unterbrochenen Fahrradwegen und anderen Unannehmlichkeiten herumplagen. Dann wurde die Infrastruktur umgebaut und heute haben die Drahtesel Vorfahrt, die Autos stoßen vermehrt auf Hindernisse. Das Stadtbild von Kopenhagen wird heute von der «Schlange» geprägt. Diese Hochstraße ist exklusiv für Fahrräder reserviert und so ausgelegt, dass die Steigungen auch für unerfahrene Radler zu stemmen sind. «Heute ist es angenehmer, das Fahrrad zu benutzen», sagt Ghislain Delabie. Die Mehrheit der Radfahrer hätten sich für dieses Fortbewegungsmittel entschieden, nicht weil es umweltfreundlich sei, sondern schnell, einfach und auch billig.
Dass das Verkehrskonzept um den Drahtesel herum erstellt wurde, zeigen auch die Prioritäten im Falle von Schneefall. «In Kopenhagen werden zuerst die Fahrradwege vom Schnee befreit, erst dann die restlichen Straßen.» So könne man in dieser skandinavischen Stadt radeln, auch wenn das Wetter dies eigentlich erschwere.

Carsharing und digitale Modelle

Die digitale Revolution ermöglichte neue Funktionsmodelle in vielen Bereichen, so auch im Verkehr. So wurde das Carsharing zwar nicht ermöglicht, die Umsetzung aber deutlich erleichtert.
«In Los Angeles haben die Stadtverantwortlichen seit Jahren Milliarden in neue Straßen investiert», so Ghislain Delabie. Egal wie schnell die Infrastruktur ausgebaut wurde, der Verkehr nahm schneller zu.
So beobachteten sie, dass die vielen Autos, die sich über die Highways pressen, meistens sehr gering besetzt sind. Ein voll besetzter Wagen verursacht viermal weniger Verkehr als vier Autos mit jeweils nur einem Insassen.
Wenn sich mehrere Leute ein Auto teilen, gibt es also weniger Verkehr. Neue Applikationen helfen, solche Fahrgemeinschaften zu bilden. Doch warum soll man das eigene Auto stehen lassen und auf die Mitfahrgelegenheit von einem Unbekannten hoffen, wenn man dennoch im Stau steht? «Geldwerte Anreize sind nicht die Lösung», meint Ghislain Delabie. «Sonst würden nicht so viele teuere Autos durch die Gegend fahren.»
Die Lösung ist auch hier, dafür Sorge zu tragen, dass die gewünschte Alternative auch die schnellere ist. «Die Leute sind eher bereit, auf den Komfort zu verzichten, wenn sie dafür ihr Ziel schneller erreichen.»
In Los Angeles (wie in anderen Städten auch) gibt es aus diesem Grund Fahrbahnen, die exklusiv für Fahrgemeinschaften reserviert sind. So können die Städte, ohne hohe Kosten, die Einwohner dazu bewegen, das eigene Auto öfters in der heimischen Garage stehen zu lassen.
Die digitale Revolution vereinfacht auch die Abstimmung von verschiedenen Fortbewegungsarten. Mit dem Auto zum Bahnhof, dann mit dem Zug in die Vorstadt und die letzte Meile wird mit einem Leihfahrrad oder Pedelec zurückgelegt.
Das Organisieren dieser Kette wird per Smartphone gewährleistet und der Nutzer kann sich mit dem Handy bis zum ersten freien Fahrrad leiten lassen.

Kostenloser öffentlicher Verkehr

«Es gibt viele öffentliche Angebote, für die man nicht bezahlen muss», so Ghislain Delabie. Dazu gehören neben Parks auch einige Museen und andere. Warum also nicht den Nahverkehr kostenfrei gestalten? Im Gegensatz zu einer City-Maut werden die Verkehrsteilnehmer nicht für die Nutzung eines ungewollten Verkehrsmittels bestraft, sondern für die Nutzung eines zu fördernden belohnt.
In Luxemburg soll in Zukunft der öffentliche Verkehr kostenlos sein. Da das Großherzogtum auf diesem Gebiet Vorreiter ist, gibt es noch keine Erfahrungswerte aus anderen Städten, welche die Wirksamkeit dieses Weges be- oder widerlegen. Das muss die Zukunft noch zeigen.
Auf jeden Fall blicken die verantwortlichen Verkehrsplaner aus vielen Städten aufmerksam auf das kleine Luxemburg. «Auch in Paris gibt es Überlegungen, die in diese Richtung zielen», sagt Delabie.

Der Urlaub im Verkehr