„Wir sind alle für ihn“ – Ein Bericht aus der Heimatstadt des ukrainischen Präsidentschaftskandidaten Selenski

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In der Heimatstadt des ukrainischen Präsidentschaftsfavoriten fällt es schwer, Anhänger des amtierenden ukrainischen Präsidenten zu finden. Wolodymyr Selenski ist für die einen der letzte Hoffnungsträger einer besseren Zukunft, für die anderen einfach ein ehrlicher Lokalpatriot, der es bestimmt nicht schlechter machen wird.

Von unserem Korrespondenten Paul Flückiger, Kriwij Rih

Aleksandr Selenski verwirft die Hände: „Alles ist bereits gesagt, alles über meinen Sohn ist im Internet“, wehrt der 70-jährige Informatikprofessor ab. Wieder einmal haben ihn Journalisten unangemeldet im „Ökonomischen Institut“ von Kriwij Rih besucht, diesmal sogar Ausländer. „Ich habe einfach nur Angst um ihn, wie jeder Vater um seinen Sohn Angst hat“, sagt Selenski senior schließlich.

Weiche, warmherzige Augen hat der Vater des laut Umfragen künftigen ukrainischen Staatspräsidenten und immer wieder lacht er laut auf. Der Drang zum Komiker muss in der Familie liegen. Doch Selenski erzählt von russischen Medienberichten, wonach unweit des Hauses seines Sohnes in der Hauptstadt Kiew ein Maschinengewehr installiert worden sei. „Wir Eltern machen das alles durch, als Vater bin ich sehr besorgt, doch auch ich will, dass es der Ukraine besser geht“, sagt Selenski senior.

Genau dies zu erreichen, das trauen laut letzten Umfragen deutlich mehr Ukrainer dem politisch völlig unerfahrenen TV-Komiker Wolodymyr Selenski zu als dem international hoch geachteten Amtsinhaber Petro Poroschenko, einem steinreichen Schokoladenfabrikanten aus der westlichen Zentralukraine. Laut einer Umfrage des Instituts „Rateing“ vom vergangenen Donnerstag wollen 52 Prozent der Ukrainer am Ostersonntag bestimmt Selenski wählen, während nur 19 Prozent sich bereits für Poroschenko entschieden haben. Jeder fünfte Ukrainer ist noch unentschieden, jeder zehnte will bestimmt nicht an die Urnen gehen.

Ein Nichtpolitiker ohne Programm

Bekannt geworden ist Wolodymyr Selenski in der ganzen Ukraine, aber auch in Russland, vor einem Dutzend Jahren mit seiner Komiker-Truppe „Kwartal-95“, die er nach einem Bezirk seiner Heimatstadt benannte. Sie macht sich angereichert mit derben, durchaus auch chauvinistischen Späßen über das Leben im post-sowjetischen Raum lustig. Dem echten 95. Stadtbezirk der Grubenstadt Kriwij Rih geht indes jegliches Gekünstelte ab. Um eine Rondo-Kreuzung gruppiert findet sich im Zentrum der offiziell über Hundert Kilometer langen Grubenstadt ein Gemisch aus von deutschen Kriegsgefangenen errichteten Mehrfamilienhäusern, grauen Sowjetwohnblocks und einer schnittigen McDonalds-Filiale. Das Wasser in den Pfützen ist rot; das hier geförderte Eisenerz hat die Stadt in der Sowjetunion berühmt gemacht.

Diesen glorreichen alten Zeiten trauert der Rentner Artjom nach, der mit zwei Nachbarn im Innenhof zwischen den Garagen steht. Die steigenden Gaspreise fressen seine magere Rente weg; die versprochenen ausgleichenden Sozialleistungen hat er zwar beantragt, aber nicht bekommen. „Wir sind alle für Selenski“, sagt Artjom, „und dass er kein Programm hat, ist ein Vorteil, denn so kann er uns nicht belügen, wie es Poroschenko vor fünf Jahren getan hat.“ Selenski sei gerade deswegen attraktiv, weil er eben kein Politiker sei, meint sein Nachbar. Etwas kritischer ist einzig der Jüngste in der Männerrunde: „Nach Selenskis Sieg wird es Kriwij Rih bestimmt besser haben, doch ob es auch der Ukraine besser geht, muss sich erst zeigen“, sagt der 40-Jährige und lacht verschmitzt.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite neben einem Fußballplatz befindet sich Selenskis lokaler Wahlstab. Eine Treppe führt zu einem modernen Büro im Hochparterre. Ein paar junge Wahlhelferinnen schwirren herum, doch abgefangen wird man von einem bulligen, allerdings betont freundlichen Riesen. Büroleiterin Tatjana Korawtschenko ist dennoch ebenfalls unangemeldet sofort zu sprechen. Das stimme doch gar nicht, dass Selenski kein Programm habe, protestiert sie und lässt eine 12-seitige Broschüre auf Ukrainisch überreichen, die vor allem die Vision einer modernen und sozialen Ukraine zeichnet.
Korawtschenko trägt ein grünes Kleid, die Farbe der Hoffnung und gleichzeitig des „Komando Ze!“, welches sie repräsentiert. „Wir sind eine NGO, keine Partei“, erklärt sie, „wir verteilen Abziehbilder für Selenski und schulen Wahlbeobachter.“ Während der ersten Runde sei es in keinem der 450 Wahllokale von Kriwij Rih zu Fälschungen gekommen, unterstreicht Korawtschenko.

Halbherziger Kampf gegen die Korruption

In Kriwij Rih wäre der erst 41-jährige Selenski bereits in der ersten Runde zum Präsidenten gewählt; so wie Poroschenko im Mai 2014 tatsächlich in der ganzen Ukraine ohne Stichwahl sofort zum Staatspräsidenten gewählt wurde. Doch die Stimmung hat sich inzwischen auch landesweit gegen den 53-jährigen Amtsinhaber gewendet. Schuld daran ist der halbherzige Kampf gegen die Korruption, die Hauptforderung der Maidan-Revolution von 2013/14. Auch der sinkende Lebensstandard und der Krieg gegen die pro-russischen Separatisten im Donbass, der über 13.000 Tote und zwei Millionen Inlandflüchtlinge gefordert hat, wird ihm von vielen zur Last gelegt. Poroschenko hat erst in der letzten Woche vor der Stichwahl Fehler zugegeben und dabei eine Verjüngung seines Teams in Aussicht gestellt. Der Staatspräsident ernennt in der Ukraine in den 19 Gebietseinheiten (Oblast) einen Gouverneur und hat damit viel Einfluss auf die Entwicklung des Landes.

Herausforderer Selenski hat jede direkte Auseinandersetzung mit Poroschenko wie bereits vor dem ersten Wahlgang vermieden. Sofort nach seinem haushohen Sieg über Poroschenko in der ersten Runde forderte Selenski aber eine national übertragene Debatte im Kiewer Olympiastadion. Drei Wochen lang dominierte fortan der Streit um die Debatte den ukrainischen Wahlkampf, während kaum mehr über Programme und Inhalte gesprochen wurde. Da Poroschenko sich von der Debatte einen Rettungsanker verspricht und hofft, zumindest die Unentschlossenen noch für sich zu überzeugen, fiel sein Wahlstab auf diese Falle herein.