„Wildlife“ – Eine schrecklich nette Familie in einem verschrobenen Drama

„Wildlife“ – Eine schrecklich nette Familie in einem verschrobenen Drama

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Schauspieler Paul Danos Regiedebüt „Wildlife“ ist ein beklemmendes, schön gefilmtes und ausgezeichnet gespieltes Coming-of-Age- Drama, in dem ein Jugendlicher zum stillen Zeugen einer zerbröselnden Ehe und der Selbstsuche seiner Mutter wird.

Ein totenstilles, gottverlassenes Dorf im Amerika der 50er-Jahre. Jeanette und Jerry sind ein Pärchen der amerikanischen Mittelklasse, das sich finanziell mehr schlecht als recht über Wasser hält. Der stets wütende, stolze Jerry hört eine Art Summen im Kopf, etwas, das ihn treibt und ihn mit den mittelprächtigen, oftmals demütigenden Jobs, die er angeboten bekommt, unzufrieden stimmt.

Ein Zerbröckeln des Familien-Mikrokosmos

Jeanette gilt als sein netter, verständnisvoller, aber hartnäckiger Counterpart. Ihr Sohn Joe hat gerade das Alter erreicht, in dem man anfängt, sich Gedanken über die eigenen Lebenswahlen zu machen. In dem man beginnt, die eigenen Eltern und ihr Verhalten kritisch zu analysieren, anstatt ihren Befehlen blind zu gehorchen und ihre Weltanschauungen für in den Stein gemeißelte Wahrheiten zu halten.

Als die Familie erneut umzieht, Jerry wieder einmal arbeitslos ist und sich dazu entscheidet, die Familie zu verlassen, um in den Bergen mit anderen Amateur-Feuerwehrmännern gegen die Waldbrände anzukämpfen (das englische Wort „Firefighter“ ist hier wirksamer als die deutsche Bezeichnung), entwickelt sich ganz schnell woanders ein Brandherd und der Film dokumentiert schonungslos das kontinuierliche Zerbröckeln des Familien-Mikrokosmos, indem er sich auf den Blickwinkel des jungen Joe fokussiert.

Exzellente Leistung von Carey Mulligan 

Dieser beobachtet recht passiv die Metamorphose seiner Mutter hin zu einer starken, äußerst eigenen Frau, die ihren Sohnemann wie einen Kumpel behandelt („Dein Vater und ich, wir schlafen seit einiger Zeit kaum mehr miteinander. Du bist alt genug, damit ich dir solche Sachen erzählen kann.“) und ihm ihre Dates mit einem wohlhabenden Autohändler inklusive expliziten Annäherungsversuchen aufdrängt. Funktionieren tut der von einem Roman von Richard Ford adaptierte Streifen vor allem, weil er neben seinen visuellen Stärken – die Vignetten von verschlafenen Dörfern, Naturgewalten und Armut sind prägend – auch ausgezeichnet gespielt ist.

Carey Mulligan verleiht Jeanette eine zerbrechliche Selbstsicherheit und spielt die zwischen Depression und Wagemut pendelnde Ehefrau so gut, als wolle sie sich selbst von dem Image, das ihr durch zahlreiche zurückhaltende, brave Rollen anhaftet, lösen. Und dies gelingt ihr durchaus – man versteht diese Frau sehr gut, weil ihre Selbstbezogenheit eine Befreiungsgeste ist, ist aber gleichermaßen, weil der Film ihr rücksichtsloses Verhalten durch den Blick des Sohnemanns filtriert, etwas empört.

Handlungsunfähig

Jake Gyllenhaal ist der große Abwesende, seine kurzen Auftritte am Anfang und am Ende des Films sind intensiv, da er die unberechenbaren Ausbrüche seiner Figur hinter der ruhigen Oberfläche seiner schwer interpretierbaren Gesichtszüge versteckt. Zwischen dem abwesenden Vater und der durchgeknallten Mutter steht der ruhige Joe, dessen Passivität eigentlich seine Handlungsunfähigkeit widerspiegelt. Denn wie viel Handlungsraum hat man mit 14, wenn man merkt, dass die eigenen Eltern ihr Leben nicht im Griff haben, und wenn die Überzeugung, dass die Eltern alles unter Kontrolle haben, sich als Scheinvorstellung herausstellt?

Ed Oxenbould spielt seine Rolle ausgezeichnet, sein Blick wirkt teils hilflos, teils verstört, teils überrascht und traurig: In wenigen Worten und Ausdrücken erfasst man, wie unfair die Eltern sind, wenn sie ihm jedes Mitspracherecht, jede Lebensweisheit abreden – in einer Szene streiten sich Jeanette und Jerry darum, was wohl die Meinung des Sohnes sein soll. Jeanette antwortet lakonisch (in dessen Anwesenheit), er habe doch überhaupt keine Erfahrung, in keinem Bereich, und wisse noch nicht, was er zu denken oder zu fühlen habe. So wird durch die Emanzipation der Mutter der Sohn in die Ecke gedrängt, als produziere ihre Selbstsuche eine weitere Unterdrückung. Das rücksichtslose Verhalten, dem der Sohn gegen Ende des Filmes eine Hoffnungsnote entgegenstellt, wird durch die latente Bedrohung des Feuers, das im Film nur kurz gezeigt wird, illustriert, sodass der größere Krisenherd in der Außenwelt zur Metapher für die Entstellung der Familie wird.

Den Alltag meistern

Intelligent ist auch der Schnitt – zu Beginn wird die Zusammengehörigkeit der Familie (die auch durch die Vornamen der Familienmitglieder, die mit dem gleichen Buchstaben beginnen, symbolisiert wird) dadurch verstärkt, dass der Alltag der drei Figuren in schnellen Schnitten gezeigt wird und die Szenen sich teilweise überschneiden: Die Kamera zeigt eine Figur, während man bereits die nächste reden hört. Hier verstricken sich die Schicksale zu einer gemeinsamen Anstrengung, den Alltag zu meistern, da wo, nachdem der Vater seine Familie verlässt, die Kamera stets nur auf Joe fokussiert ist, sodass man das Geschehen ausschließlich aus der Perspektive von Joe versteht und in seiner Einsamkeit mitgefangen wird.

Wieso dessen einzige potenzielle Alliierte zur Hälfte des Filmes quasi ohne Erklärung verschwindet, mag in der Darstellung der Vereinsamung von Joe Sinn machen, wirkt erzählerisch aber etwas unlogisch. Davon abgesehen ist der Streifen, der in seiner Beklemmung eine gewisse Leichtigkeit und Poesie behält, definitiv jedem zu empfehlen, der über die Weihnachtstage glaubt, er wäre der Einzige, der einer Problemfamilie gegenübertreten müsse.