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„Trauriger Rekord“ in Luxemburg: So viele HIV-Infektionen wie noch nie zuvor

„Trauriger Rekord“ in Luxemburg: So viele HIV-Infektionen wie noch nie zuvor

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101 Menschen haben sich 2017 in Luxemburg mit HIV infiziert. Das geht aus dem Bericht des Aids-Überwachungskomitees hervor, der am Montag erschienen ist. Die Zahl stellt den höchsten jemals im Großherzogtum festgestellten Wert dar. «Ein trauriger Rekord», schreibt das Gesundheitsministerium darum im Geleitwort.

Die Zahl der HIV-Neuinfektionen hat sich in den vergangenen zehn Jahren in Luxemburg verdoppelt: 2017 haben sich 74 Männer und 27 Frauen mit dem Virus infiziert. 2007 waren es 47. Das Aids-Komitee schätzt, dass insgesamt 1.081 Menschen in Luxemburg mit HIV leben. 812 von ihnen werden medikamentös behandelt.

Das Virus gelangt inzwischen über andere Wege in den Körper der Betroffenen: Während bis zur Jahrtausendwende Homo- oder Bisexuelle zu den gefährdetsten Personengruppen gehörten, sind es seit der jüngeren Vergangenheit vor allem Heterosexuelle, die die Bilanz anführen. 49 Menschen infizierten sich 2017 beim heterosexuellen Sex. Dem stehen 34 homo- oder bisexuelle Menschen gegenüber. Die Zahl der Infektionen, die auf Drogenkonsum zurückgehen, halbierte sich gegenüber dem Vorjahr und belief sich 2017 auf zehn Menschen.

Das Aids-Komitee nimmt die Infektionen durch verunreinigte Spritzen dennoch ernst. Vor allem der fortlaufende Trend zur Injektion von Kokain bereitet den Medizinern Sorgen. Der mit dem Drogenkonsum einhergehende soziale Ausschluss untergräbt die derzeitigen Präventionsbemühungen, heißt es im Bericht.

Problem: «Versteckte» HIV-Epidemien

Für Carole Devaux, die neue Präsidentin des Komitees, sind auch die versteckten HIV-Epidemien ein Problem. «Menschen, die sich ihrer Infektion nicht bewusst sind, sind die wichtigsten Faktoren für zukünftige Ansteckungen», erklärt sie.

Luxemburg müsse den Zugang zur medizinischen Versorgung erleichtern und ein vielfältigeres Angebot in Sachen Diagnostik entwickeln. Ungleichheiten bei Zugang, Nutzung und Aufrechterhaltung von Therapien sollten reduziert werden. Im Zuge dessen empfiehlt sie vor allem die Einführung von HIV-Schnelltests, die in Luxemburg noch nicht im Handel erhältlich sind. Laut dem Gesundheitsministerium ist eine entsprechende Gesetzesvorlage auf dem Instanzenweg. Ab Januar 2019 sollen die Tests auch in Luxemburg erhältlich sein.

Carole Devaux fordert die Politik vor dem Hintergrund der Wahlen auf, Luxemburg in Richtung sozialer Gerechtigkeit zu führen. «Wie können wir in einem Land mit einer ausgezeichneten medizinischen Versorgung und einem Überschuss bei der Sozialversicherung noch akzeptieren, dass Menschen wegen ihrer sozialen Situation, ihres Rechtsstatus oder ihres psychologischen Zustands keinen Zugang zu medizinischer Versorgung haben?»

Prophylaxe gegen HIV? Ein Pilotprojekt am CHL

Hätten die vielen Neuinfektionen in Luxemburg vermieden werden können? Im städtischen Krankenhaus CHL erproben Ärzte seit März 2017 den Einsatz von Medikamenten, die die Weitergabe des Virus hemmen. 75 Menschen nehmen an dem Pilotprojekt teil. Wir haben mit dem Infektionsspezialisten Vic Arendt gesprochen.

Tageblatt: Was ist PrEP?
Vic Arendt: PrEP steht für «Präexpositionsprophylaxe» – also eine Prophylaxe vor einer möglichen Infektion. Die Betroffenen müssen jeden Tag eine Tablette nehmen. Kommt es dann zum Kontakt mit dem Virus, ist das Risiko einer Infektion um bis zu 85 Prozent geringer. PrEP ermöglicht es Hochrisikopersonen, ihr Infektionsrisiko zu verringern.

Was ist die Zielgruppe?
Menschen, die einem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt sind. Konkret sind das Männer, die Sex mit Männern haben und die mit mehr als zwei Partnern in den vergangenen Monaten ungeschützten Sex hatten, sowie Menschen, die schon mehrfach an anderen Geschlechtskrankheiten litten. Auch Prostituierte und Drogensüchte gehören dazu. Und natürlich Personen, die einen Partner haben, der HIV-positiv ist. Jeder, der die Kriterien erfüllt, darf beim Pilotprojekt am CHL mitmachen. Die Patienten kommen alle drei Monate vorbei, sie machen Tests und eine Blutanalyse und bekommen dann das Rezept für die PrEP-Medikamente ausgestellt.

Wie wird die PrEP eingenommen?
Das ist nichts Kompliziertes: eine Tablette pro Tag. Bei dieser kontinuierlichen Einnahme kann man sich nach einer Woche geschützt fühlen. Aber es gibt noch ein anderes Schema: Bei der «zeitweiligen» Einnahme werden zwei Tabletten auf einmal genommen. Das bewirkt eine höhere Konzentration des Wirkstoffs in den Zellen und reicht laut einer Studie, um innerhalb von zwei Stunden geschützt zu sein. Nach 24 und 48 Stunden muss dann eine weitere Tablette genommen werden.

Woraus bestehen die Medikamente?
Die PrEP-Medikamente bestehen aus zwei der drei Wirkstoffe, die auch bei den Therapie-Medikamenten für HIV-positive Patienten angewendet werden. Die Wirkstoffe hindern die Viren daran, sich in den Körperzellen zu vermehren. So kann eine Infektion verhindert werden.

Was sind die Nebenwirkungen?
Es gibt fast keine direkten Nebeneffekte. Erst, wenn man die Medikamente über Jahre hinweg nimmt, können sie nieren- und knochenschädigend wirken.

Wie sicher ist der Schutz?
Der Schutz liegt nicht bei 100 Prozent – man kann sich auch dann anstecken, wenn man die Medikamente regelmäßig nimmt. Studien, in denen Patienten regelmäßig untersucht werden, gehen von einem Schutz von 86 Prozent aus. Andere Studien kommen nur auf einen Wert von 50 Prozent. Wir sagen den Patienten: Neben der PrEP sollten auch Kondome genutzt werden und die Zahl der Partner möglichst klein gehalten werden. Die PrEP ist kein Ersatz, sondern eine zusätzliche Maßnahme.

Wie lange läuft das PrEP-Pilotprojekt am CHL noch?
Das Projekt ist für zwei Jahre angesetzt, also bis Frühjahr 2019. Das Gesundheitsministerium will dann entscheiden, ob die Medikamente freigegeben werden und auch von anderen Ärzten verschrieben werden können. Ich glaube, wir müssen weitermachen – und den Kreis der Behandelten vor allem weiter auf Drogensüchtige ausweiten.

Notfallmedikamente

Menschen, die befürchten, sich mit HIV angesteckt zu haben, können zu einem Notfallmedikament greifen – der Postexpositionsprophylaxe (PEP). Diese wird in Luxemburg laut Gesundheitsministerium seit vielen Jahren eingesetzt und richtet sich vor allem an zwei Personengruppen: diejenigen, die im Beruf mit kontaminiertem Blut in Berührung gekommen sein könnten und diejenigen, die dem Virus durch ungeschützten Sex oder beim Konsum von Drogen ausgesetzt waren.

CHL-Infektionsspezialist Vic Arendt sagt, dass ein Viertel der Risiko-Kontakte professioneller Natur ist. Als Risikogruppen gelten beispielsweise Pflegekräfte oder Polizisten. 20 Beamte haben laut Polizei 2017 eine PEPBehandlung in Anspruch genommen. «Da besagte Behandlung wirkungsvoller ist, umso schneller sie eingesetzt wird, wird im Prinzip beim geringsten Verdacht auf PEP zurückgegriffen», erklärt Polizeisprecher Frank Stoltz. «Keiner der 20 Beamten wurde infiziert.»

Behandlung muss schnell erfolgen

Laut Vic Arendt muss die Behandlung innerhalb von wenigen Stunden nach der potenziellen Infektion durchgeführt werden. «Nach 48 bis 72 Stunden hat es keinen Sinn mehr», sagt er. Wirklich wirksam sei die PEP wahrscheinlich nur in den ersten 24 Stunden. Die Medikamente gibt es in den Notaufnahmen der Luxemburger Krankenhäuser.

Die Wirkstoffe in den PEP-Medikamenten sind die gleichen wie bei der HIV-Therapie und bei den PrEP-Mitteln. Potenzielle Nebenwirkungen seien Magenunverträglichkeit und leichter Durchfall, erklärt Vic Arendt.

Laut dem Aids-Bericht wurde in Luxemburg 2017 eine Person bei der Ausübung ihres Berufs infiziert. Der mit Abstand größte Teil von PEP-Medikamenten wurde am CHL ausgegeben. 2017 gab es dort insgesamt 117 Behandlungen.

Info: HIV – und AIDS

Von der Infektion mit dem HI-Virus bis hin zum eigentlichen Ausbruch von Aids kann es bis zu zehn Jahre dauern. «Nach acht Jahren sind die Hälfte der Patienten ohne Therapie im Stadium der Krankheit», erklärt CHL-Mediziner Vic Arendt. Mit den Therapien von heute sollten Patienten dieses Stadium eigentlich nicht mehr erreichen. Dies sei jedoch eine Frage des Zeitpunkts der Diagnose. In Luxemburg gab es 2017 fünf Fälle von Aids. Die Zahl ist vor dem Hintergrund der Neuinfektionen rückläufig. Fünf Menschen starben 2017 in Luxemburg an Aids.

Zum Kommentar:

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