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Streik, knappe Lebensmittel und Arbeitermangel: Die Düdelinger „Schmelz“ im Ersten Weltkrieg

Streik, knappe Lebensmittel und Arbeitermangel: Die Düdelinger „Schmelz“ im Ersten Weltkrieg

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Am 2. August 1914 beginnt für Luxemburg der Erste Weltkrieg. Durch die spezifische damalige Zusammensetzung der Belegschaft fehlt auf einmal ein Fünftel der Arbeitskräfte. Nicht nur dieser Umstand, sondern auch die soziale Situation der Arbeiterschaft beschäftigt die Betriebsleitung während der Kriegsjahre.

Jacques Maas ist Historiker, sein Schwerpunkt ist die Luxemburger Stahl- und Eisenindustrie. Er hat sich unter anderem mit der Düdelinger «Schmelz» in den Jahren 1914-1918 auseinandergesetzt. Für eine im September abgehaltenen Konferenz zu dem Thema zog er bisher kaum benutzte Quellen für seine Forschung zurate. Wir haben uns mit ihm über die Situation des Düdelinger Hüttenwerks zu der Zeit unterhalten.

Die Entwicklung der Industrie beginnt bereits im 19. Jahrhundert. Durch die Entdeckung von Eisenerzvorkommen setzt im Süden des Landes ab den 1840er Jahren die industrielle Revolution ein. 1879 erwerben Luxemburger Eisenhüttenbesitzer das Thomas-Gilchrist-Verfahren, wodurch aus dem phosphorreichen Roheisen Stahl hergestellt werden kann.

1911 entstehen durch eine Fusion von mehreren Unternehmen die Vereinigten Hüttenwerke Burbach, Eich und Düdelingen (Arbed). Die Düdelinger «Schmelz» verfügt über sechs Hochöfen. 1913 liegt die Produktion hier bei 315.000 Tonnen Stahl. Die Produktpalette ist breit gefächert: Dazu zählen zum Beispiel Eisenbahnschienen und Träger. Dann beginnt 1914 der Krieg: Die Arbeiterschaft und Direktion müssen sich auf die neuen Lebensumstände einstellen.


Bei Kriegsbeginn

Für Luxemburg beginnt der Krieg frühmorgens am 2. August 1914, als die deutsche Armee im Großherzogtum einmarschiert. Vorher hat die Kriegsgefahr bereits in der Luft gelegen. Das ist auch vielen Arbeitern anzumerken: Die deutschen Arbeitnehmer wissen, dass sie im Falle eines Krieges an die Front berufen werden.

Die italienischen Arbeiter befinden sich derweil in einer sehr unsicheren Situation, da sie nicht wissen, ob sie noch bis nach Italien durchkommen. Sie wollen am liebsten sofort zurück und ihren restlichen Lohn ausbezahlt bekommen. Dies stellt die Betriebsleitung vor ein großes Problem, da sie zu dem Zeitpunkt nicht genügend Bargeld vorrätig hat. Generaldirektor Emile Mayrisch fährt dann am 3. August 1914 bei einer Nacht- und Nebelaktion durch die Eifel, um bei einer größeren Kölner Bank Geld abzuheben. Er kommt einen Tag später mit zwei Millionen Reichsmark im Gepäck zurück nach Düdelingen. In Luxemburg herrscht zu der Zeit ein Sturm auf die Bankkonten.


Die Frage der Neutralität

Am 2. August steht für die Luxemburger Regierungsverantwortlichen fest, dass die Neutralität nicht respektiert wird. Am selben Tag hat Generaldirektor Emile Mayrisch eine Bekanntmachung auf den Portalen der Düdelinger «Schmelz» anbringen lassen. In dieser wird darauf bestanden, dass das Unternehmen die Neutralität konsequent einhalten muss. Mayrisch ruft die Belegschaft dazu auf, unabhängig ihrer Position, die Neutralität und den allgemeinen rechtlichen Status des Landes zu respektieren.

Dieser Standpunkt wird nicht von allen Werksleitungen geteilt, denn einige der Hüttenwerke, wie die in Differdingen und in Esch, gehören deutschen Unternehmen. Deswegen stehen sie der Produktion von deutschem Kriegsmaterial zur Verfügung. Bei der Arbed ist dies nicht der Fall. Generaldirektor Emile Mayrisch hat mit Staatsminister Paul Eyschen anhand einer Richtlinie festgelegt, dass während der Kriegszeit keine neuen Produkte hergestellt und keine neuen Anlagen errichtet werden. Das heißt konkret, dass bei der Arbed kein direktes Kriegsmaterial hergestellt werden soll.

Zu der Zeit stehen jedoch alle Werke, darunter auch das Düdelinger, unter sehr starkem Druck. Der Grund: Im August 1914 kommen überhaupt keine Kokslieferungen, kohlenstoffhaltiger Brennstoff, an, da die Eisenbahnlinien komplett für den Militärtransport vereinnahmt werden. Deswegen kann Anfang September nicht mehr produziert werden.
Es gilt jedoch, die Neutralitätsfrage differenziert zu betrachten, da die Arbed nicht nur Werke in Luxemburg, sondern auch zwei auf deutschem Territorium besitzt: Einmal in Burbach/Saar sowie das Stahl- und Walzwerk in Eschweiler/Aachen. Die beiden Werke produzieren direktes Kriegsmaterial für die deutsche Waffenindustrie. Demnach ist die Neutralität der Arbed stark zu relativieren, da auch das Düdelinger Werk Halbfabrikate nach Burbach und Eschweiler liefert und somit indirekt Stahl für die deutsche Waffenindustrie produziert.


Soziale Situation der Arbeiter

Bereits einige Jahre vor dem Krieg hat es eine Lebensmittelteuerung gegeben, die sich während des Krieges erheblich verschärft.

Mitte 1916 wissen lohnabhängige Beamte und Arbeiter nicht mehr, wie sie an Lebensmittel gelangen können. Die Düdelinger «Schmelz» versucht, Lebensmittel einzukaufen und den Kantinenservice auszubauen.

Ende August 1916 führen diese Probleme zur Gründung von zwei Arbeitergewerkschaften: Am 1. September 1916 wird in Esch der Berg- und Hüttenarbeiterverband (BHAV)gegründet und zwei Tage später der Luxemburger Metallarbeiterverband in Luxemburg-Stadt (LMAV).


Die Belegschaft

1912/1913 sind rund 2.400 Arbeiter in Düdelingen beschäftigt. Darunter sind 47,3 Prozent Luxemburger, 33,7 Prozent Italiener und etwa 370 Arbeiter aus Deutschland. Dabei werden die schweren Arbeiten, d.h. das Be- und Entladen der Waggons, von Italienern verrichtet. Ein großer Teil der Deutschen sind Facharbeiter, die vorrangig im Walzwerk arbeiten. Durch den Kriegsanfang fehlen von einem Tag auf den anderen 400 bis 500 Arbeiter. Nicht alle müssen ersetzt werden, da zu der Zeit die Produktion gedrosselt worden war. Ende des Jahres 1914 werden neue Arbeiter regelrecht von der Straße rekrutiert.

1915/1916 geht das Unternehmen dazu über, junge Menschen zwischen 16 und 20 Jahren im Werk selbst auszubilden, um die fehlenden Facharbeiter zu ersetzen. Bei den Hochöfen und der Möllerei wird eine große Anzahl Frauen angeworben: In der zweiten Hälfte des Krieges arbeiten dort 169 Frauen. Das hat es bis dahin und nie mehr danach in solchem Ausmaß gegeben. Zu bemerken ist, dass die Arbeiterinnen genauso bezahlt wurden wie die männlichen Angestellten.


Der erste Massenstreik

Die Gründung der Gewerkschaften ist nicht gerne bei den Direktionsmitgliedern gesehen. Mit Unmut sehen sie, wie sich die Arbeiterschaft untereinander organisiert und anfängt, Forderungen zu stellen. Den geforderten Lohnerhöhungen, um die Lebensmittelteuerung auszugleichen, wollen sie nicht nachkommen. Aus diesem Grund tritt Ende Mai, Anfang Juni die Arbeiterschaft in den Streik. Am 1.6.1917 findet in Düdelingen eine große Protestaktion statt, die bei der Le’h beginnt und bei der 1.500 Arbeiter beteiligt sind.

Dies ist der erste große Massenstreik. Die vorherigen Streiks sind sektoriell begrenzt gewesen. Die Arbeiter haben jedoch sehr schlechte Karten, da Luxemburg unter deutscher Militärverwaltung steht und die Direktionen jegliche Verhandlungen verweigern. Der deutsche Befehlshaber Richard Karl von Tessmar veranlasst, deutsche Truppen in den Arbeiterstädten einzusetzen und dort zu patrouillieren. Anfang Juni 1917 werden die ersten Gewerkschaftsverantwortlichen verhaftet und deportiert. Die noch jungen Gewerkschaften können dies finanziell nicht lange stemmen. Am 6. Juni hören die Düdelinger als Erste mit dem Streik auf.


Das Ende des Krieges

Im Juli 1916 wird das Düdelinger Hüttenwerk verstärkt bombardiert. Bei zehn größeren Angriffen werden 115 Bomben abgeworfen, von denen nur 23 die «Schmelz» treffen, deren Produktionsablauf nicht entscheidend beeinflusst wird. Größer ist der Schaden in den umliegenden Wohnvierteln. Die Bombardements halten bis Mitte 1918 an. Das Lebensmittelproblem wird bis 1919 nicht gelöst. Dazu kommt der Ausbruch der Spanischen Grippe. Einen Lichtblick gibt es dennoch: Ende 1918 gelingt es den Arbeitern und den Gewerkschaften, ihre Forderung nach einem Acht-Stunden-Tag durchzusetzen.


Info

Eine weitere Konferenz im Kulturzentrum «opderschmelz» in Düdelingen findet am 16.10. mit dem Thema «Auslänner zu Diddeleng um Ufank vum 1. Weltkrich. Nei Erkenntnisser» statt. Ab 19.30 Uhr referiert Historikerin Antoinette Reuter.

Im «Centre de documentation sur les migrations humaines» läuft die Ausstellung «Etre d’ailleurs en temps de guerre (1914-1918). Etrangers à Dudelange – Dudelangeois à l’étranger» noch bis zum 9.12.

Website

www.cdmh.lu
www.opderschmelz.lu

Zum Kommentar:

Lohngleichheit vor 100 Jahren