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Protestwelle in Südeuropa zeugt von wachsendem Unmut im EU-Wartesaal

Protestwelle in Südeuropa zeugt von wachsendem Unmut im EU-Wartesaal

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Die Welle von Protesten in Serbien, Montenegro und Albanien nährt in Südosteuropa die Erwartung auf einen nahenden «Balkanfrühling». Zwar sitzen bei allen EU-Anwärtern die Machthaber nach wie vor sicher im Sattel. Aber im ausgezehrten EU-Wartesaal mehrt sich der Unmut über Korruption, autoritäre Tendenzen und selbstherrliche Regenten.

Von unserem Korrespondenten Thomas Roser, Belgrad

In Frankreich scheinen die Gelbwesten-Proteste an Kraft zu verlieren. Auf dem Balkan breiten sich die Demonstrationen gegen Korruption und Machtmissbrauch hingegen wie ein Ölfleck aus. Jedes Wochenende scheinen es mehr zu werden: Bereits seit drei Monaten ziehen in Serbien Zehntausende von Demonstranten in mittlerweile über 40 Städten gegen Vetternwirtschaft, Abbau des Rechtsstaats und Pressegängelung unter dem allgewaltigen Präsidenten Aleksandar Vucic über die Straßen.

Grenzüberschreitende Protestwelle

Auch in Montenegros Hauptstadt Podgorica demonstrierten am Wochenende tausende aufgebrachte Bürger gegen die korrupten Machenschaften des geschäftstüchtigen Dauerregenten Milo Djukanovic. Im albanischen Tirana setzte die Polizei bei einer Großdemonstration der Opposition gegen den sozialistischen Premier Edi Rama zur Verhinderung eines versuchten Parlamentssturms gar Wasserwerfer und Tränengas ein.
Serbiens kaltem Winter haben die Demonstranten getrotzt – und nun steht das Frühjahr bevor. Die grenzüberschreitende Protestwelle im ausgezehrten EU-Wartesaal schürt in den Webwelten bereits die Erwartung auf einen «Balkanfrühling». 20 Jahre Warten auf den EU-Beitritt und ein besseres Leben sei «eine lange Zeit», spricht der serbische Analyst Srdjan Cvijic per Twitter von einer «wachsenden Ungeduld»: Diejenigen, die noch nicht gegangen seien, würden die eigene Führung zunehmend als das größte «Hindernis» empfinden.

Die Ausgangslage und politische Situation der EU-Beitrittskandidaten sind unterschiedlich, die beklagten Missstände und die Motivation der Demonstranten weisen aber grenzüberschreitende Gemeinsamkeiten auf. Der wirtschaftliche und gesellschaftliche Stillstand geht mit dem Abbau rechtsstaatlicher Prinzipien einher. Autoritär gestrickte oder selbstherrliche Regenten scheinen staatliche Ressourcen und Institutionen wie einen Selbstbedienungsladen für ihren Parteiclan und Sponsoren zu nutzen: Das Prinzip der Gewaltenteilung ist den geschäftstüchtigen Strippenziehern der Region trotz gegenteiliger Lippenbekenntnisse ebenso zuwider wie die Kontrollfunktion einer freien Presse.

Unabhängige Aktivisten und Bürgerinitiativen

Noch sitzen die von den Demonstranten hart kritisierten Würdenträger sicher in ihren Sesseln. Auffällig ist, dass zumindest die Proteste in Serbien und Montenegro weniger von der zersplitterten Opposition als von unabhängigen Aktivisten und Bürgerinitiativen getragen werden: Auch dadurch sind die wenig homogenen Proteste von den zunehmend nervös reagierenden Machthabern schwer einzuschätzen.

Die noch zu Jahresbeginn zu erwartende Ausschreibung vorzeitiger Neuwahlen im Frühjahr, mit denen Serbiens Präsident Vucic der Opposition bislang wiederholt ihre Grenzen aufzeigen konnte, scheint vorläufig abgeblasen. Stattdessen tingelt Serbiens Dominator genauso wie sein albanischer Gegenspieler Rama derzeit auf PR-Tour durch die Provinz, um sich in einer Art Gegenoffensive zu den Protesten bejubeln zu lassen, die eigenen Anstrengungen ins rechte Medienlicht zu setzen – und die Parteikader für kommende Wahlkampfherausforderungen zu mobilisieren und in Bereitschaft zu halten.

Auch bei dem vom EU-Erweiterungszug weitgehend abgekoppelten Anwärtern Kosovo und Bosnien-Herzegowina scheint die Flucht in die Emigration das einzige Ventil für den wachsenden Unmut über die tristen Zustände zu sein. Abgesehen von Nordmazedonien, wo nach Ende des Dauerstreits mit Athen eine Aufbruchstimmung zu verspüren sei, sieht der Kosovo-Analyst Luzim Peci die Region mit dem stillschweigenden Segen der nur auf Stabilität bedachten EU in eine «depressive Autokratie» abgleiten, in der eher «geherrscht als regiert» werde: «Die Leute fühlen sich gegenüber ihrer sogenannten Führung zunehmend machtlos.»