Jean-Claude Juncker zieht zum Abschied Bilanz – „Europa muss man lieben“

Jean-Claude Juncker zieht zum Abschied Bilanz – „Europa muss man lieben“

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Das Europaparlament hat diese Woche seine letzte reguläre Sitzung vor der Wahl. Zeit für Reflexionen und Bilanzen – auch für den Präsidenten der EU-Kommission.

Mit einer Liebeserklärung an Europa hat sich der scheidende EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vom Europaparlament verabschiedet. «Europa muss man lieben», sagte Juncker am Mittwoch in Straßburg. «Wenn man es nicht liebt, ist man zur Liebe nicht fähig. Ich liebe Europa, es lebe Europa!» So habe er es schon am ersten Tag seiner Amtszeit gesagt, und so sei es geblieben.

Der Luxemburger war nach der Europawahl 2014 ins Amt gekommen. Sein Mandat endet offiziell Ende Oktober. Vom 23. bis 26. Mai wird ein neues Europaparlament gewählt, das dann auf Vorschlag der EU-Staats- und Regierungschefs Junckers Nachfolger bestimmt. Seine letzte Rede vor dem amtierenden Parlament nutzte der 64-Jährige für eine Bilanz seiner Amtszeit und einen wehmütigen Abschiedsgruß.

«Mit schwerem Herzen sehe ich einige Kollegen sich aus der Politik oder aus dem Parlament zurückziehen», sagte Juncker, der sich selbst gegen eine weitere Amtszeit entschieden hatte. «Ich habe die Arbeit hier mit Ihnen sehr gemocht, habe viel gelernt, habe viel gestritten. Aber wir haben auch einiges geschafft.»

Erfolg Roaming, Fehlschlag Asylpolitik

Während der vergangenen fünf Jahre seien 350 Vorschläge seiner EU-Kommission umgesetzt worden, darunter wichtige Verbesserungen im Alltag wie das kostenfreie Roaming beim Mobilfunk im EU-Ausland. Juncker bedauerte, dass in der Asylpolitik keine EU-Lösung gelungen sei. Ein Trost für ihn sei aber, dass die EU auf der sozialen Ebene vorankomme.

«Der Brexit ist wichtig, aber das tägliche Leben der Bürger ist noch wichtiger», sagte der Kommissionschef. Die Kommission habe 1600 Bürgerdialoge organisiert. Das zeige, dass sie sich nicht in ihrem Brüsseler Amtssitz verbunkere und «keine Bande von Putschisten» sei, sondern täglich Kontakt zu den Bürgern habe.

Europa lasse sich nicht gegen den Willen der Völker und ohne die Nationen machen, fügte Juncker hinzu. Wer glaube, dass Nationen ein Auslaufmodell seien, der irre sich gewaltig. «Wir sollten aus meiner Sicht nicht mehr von den Vereinigten Staaten von Europa sprechen», betonte Juncker. «Europa wird niemals ein Staat nach dem Modell der Vereinigten Staaten von Amerika – niemals.»

«Das Beste, was ich mir vorstellen kann.»»

Juncker äußerte sich nach einer Rede des lettischen Ministerpräsidenten Krisjanis Karins zur Zukunft Europas. Auch Karins wurde emotional: «Die EU ist nicht perfekt und wird dies auch niemals sein – bestimmt nicht. Aber sie ist mit Sicherheit das Beste, was ich mir vorstellen kann.»

Mit Blick auf befürchtete Zugewinne von Europagegnern bei der Wahl meinte Karins: «Bekämpft nicht die Populisten. Kümmert euch um die Ursachen der Unzufriedenheit der Menschen.» Der Regierungschef nannte Arbeitsplätze, Migration, Umweltpolitik und Sicherheit als wichtigste Themen.

Vor allem Sicherheit bedeute für jeden etwas anderes, für Lettland sei es in erster Linie die Sicherheit vor Russland und dessen Falschnachrichten, sagte Karins. Er forderte von der EU ein schärferes Vorgehen gegen russische Propaganda in sozialen Medien. Statt freiwilliger Maßnahmen der Online-Plattformen solle die EU ernsthaft ein gesetzliches Einschreiten prüfen.


Die Rede im Wortlaut

«Herr Präsident,

Lettland bringt seine volle Kraft in Europa ein. Deshalb ist es normal, dass Europa auch in Lettland investiert. Denn in Lettland zu investieren, heißt, in die europäische Zukunft zu investieren. Die Letten wissen aus erster Hand, welche Wirkung dies haben kann: 50.000 lettische Arbeitssuchende und fast 9.000 Beschäftigte konnten seit 2014 dank europäischer Mittel neue Qualifikationen erlernen, um auf dem Arbeitsmarkt durchzustarten.

300 Kilometer neu gebaute oder instandgesetzte Straßen, aus EU-Mitteln finanziert, werden dazu beitragen, das Wirtschaftszentrum Riga mit den ländlichen Regionen sowie den Nachbarn Litauen und Estland zu verbinden.

999 Millionen Euro an Investitionen wurden dank des sogenannten «Juncker-Fonds» in Lettland mobilisiert. Die lettische Zukunft betrifft unser aller Zukunft und deshalb schlagen wir vor im nächsten EU-Haushalt 100 Milliarden Euro in Innovation und Forschung zu investieren. Wir wollen in die großen Herausforderungen investieren, denen wir uns nur gemeinsam als Team stellen können.

So wird beispielsweise die Finanzierung für stärkere Grenzen und Sicherheit fast verdreifacht. Wir werden sicherstellen, dass jeder vierte Euro des Haushaltes unsere Ziele für Klima und nachhaltige Entwicklung unterstützt. Und die Mittel für das Erasmus+-Programm werden auf 30 Milliarden Euro verdoppelt. Ich danke Premierminister Kariņš und seiner Regierung für die anhaltende Unterstützung, um uns auf diesem Weg aktiv zu begleiten.

Ich würde aber auch gerne etwas zu Ihrer Bemerkung die mittelfristige Finanzplanung betreffend sagen: Es ist richtig, dass wir in Innovation, Forschung, Jugend und Verteidigung investieren. Das können wir aber nur tun, wenn wir in bestehenden Politiken einige Kürzungen vornehmen – Agrar und Kohäsion. Ich bin darüber nicht glücklich, aber wenn wir alles so belassen, wie es ist, plus wir die neuen Prioritäten, auf die sich Parlament und Rat verständigt haben, auch finanzieren müssen, dann brächten wir den europäischen Haushalt auf ein Niveau von 1,4%. Und das will niemand. Mich würde das überhaupt nicht stören. Europa ist mehr wert als 1,4% seines Bruttonationalproduktes. Aber sogar das Parlament, in Haushaltsfragen weniger zurückhaltend als der Rat, hat das obere Limit für die Festlegung des europäischen Haushaltes auf 1,3% festgelegt. Wenn wir, als Kommission, 1,4% statt 1,1% vorgeschlagen hätten, dann hätten sogar Sie dem nicht zugestimmt und viele in diesem Hause auch nicht. Insofern muss man Prioritäten setzen ohne die bestehenden Politiken in der Mottenkiste unterzubringen, weil Agrar und Kohäsion sind wichtig und für einige Länder wichtiger, als für andere.

Lettland hat schwierige Jahre hinter sich, nicht nur wegen seiner geografischen Lage und wegen der historischen Belastung, der es unterliegt, sondern auch, weil die Wirtschaftskrise in Lettland voll zugeschlagen hat. Aber fünf Jahre nach dem Beginn unserer Amtszeit geht es der lettischen Wirtschaft deutlich besser. Das ist auch das Verdienst einer Ihrer Vorgänger, Valdis Dombrovskis, der Lettland auf Kurs gebracht hat. Und deshalb habe ich mich sehr darum bemüht, mit Erfolg, wie man sieht, dass er Vize-Präsident der Europäischen Kommission wird und zuständig für Euro und sozialen Dialog ist. Valdis, ich danke Dir für deine Arbeit!

Lettland mag ein kleineres Land sein – ich bin Spezialist für kleinere Länder. Aber es ist ein Land mit großen Ambitionen. Und es ist ein Ort, an dem West und Ost aufeinandertreffen. West und Ost dürfen nicht auseinander dividiert werden, sondern sind die zwei Lungenflügel der Europäischen Union. Wenn Europa gerne eine gute Zukunft hätte, dann muss es mit beiden Lungen atmen.

Dies ist die letzte Rede, die ich vor diesem Parlament in dieser Zusammensetzung halten darf. Mit schwerem Herzen sehe ich einige Kollegen sich aus der Politik oder aus dem Parlament zurückziehen. Ich habe die Arbeit hier mit Ihnen sehr gemocht, habe viel gelernt, habe viel gestritten, aber wir haben auch einiges geschafft. Es bleibt so, wie ich am ersten Tag meiner Amtszeit gesagt habe: Europa muss man lieben. Wenn man es nicht liebt, ist man zur Liebe nicht fähig. Ich liebe Europa! Es lebe Europa!»

 

Einheimeschen
18. April 2019 - 16.09

Merci Häer Junker, duerch Leit wi Iëch ass Lëtzebuerg am Gespréich bliwen. Wann den Häer Asselborn och nach geet da wäert gläich kee méi vu Lëtzbuerg schwetzen ...

Realist
18. April 2019 - 7.58

Wenn Herr Juncker "Europa" sagt, meint er immer die EU. Kleiner aber wichtiger Unterschied. Was aber passiert mit denen, die dieses Europa, dh diese EU nicht lieben und somit öffentlich bezeugen, dass sie "zur Liebe nicht fähig" sind? Müssen diese Leute mit Konsequenzen rechnen, womöglich gar Angst haben...?