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In den Randbezirken der Wirklichkeit – Der neue Erzählband von Clemens J. Setz

In den Randbezirken der Wirklichkeit – Der neue Erzählband von Clemens J. Setz

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„Der Trost runder Dinge“ stellt seine Leser*innen mit formal wie inhaltlich verstörenden Geschichten vor kognitive Herausforderungen, die sich nicht meistern lassen, aber dennoch lohnen.

Von Jeff Thoss

Ein Mann besucht fremde Wohnungen und behauptet, dort früher gelebt zu haben. Ein anderer entdeckt bei seiner blinden Freundin obszöne Schriftzüge an den Wänden. Eine Frau ruft einen Callboy zu sich und möchte mit ihm vor ihrem komatösen Sohn Sex haben. Eine andere macht einem Jungen tagelang vor, seine Mutter sei verunglückt und er könne nicht mehr nach Hause.

Dies sind nur einige der Szenarien, die Clemens J. Setz in den 20 Erzählungen von „Der Trost runder Dinge“ entwirft. Wie in vorigen Bänden kultiviert der Grazer Autor eine Ästhetik des Skurrilen und Grotesken, die gelegentlich ins Fantastische hinüberreicht. Inmitten der ach so bürgerlichen Normalität hat sich das Absonderliche und Abgründige längst eingenistet. An den Rändern des Sichtfelds bewegen sich bedrohliche Kreaturen, die jederzeit von der Realität Besitz ergreifen können. Und ist man bei Setz erst einmal aus der gewohnten Welt gekippt, sollte man darauf gefasst sein, dorthin nicht mehr zurückzufinden. Die nächsten Volten warten schon.

Obskure Eigenlogik

Man sucht in diesen Erzählungen vergeblich nach narrativen Rettungsankern, die es einem erlauben würden, das Gelesene mithilfe von psychologischen oder allegorischen Deutungsmustern in das Reich des Alltagsverstands zurückzuholen. Die Geschichten folgen einer obskuren Eigenlogik, die Figuren bleiben selbst dort, wo wir vermeintlich in ihr Innerstes blicken, undurchschaubar.

„Geteiltes Leid“ etwa handelt von einem Vater zweier Söhne, der an lähmenden Panikattacken leidet und befürchtet, er könne seine Krankheit vererbt haben. Als sich bei einem seiner Söhne Anzeichen eines Anfalls zeigen, macht sich eine große Erleichterung bei ihm breit, endlich einen Leidensgenossen gefunden zu haben.

Der Text macht ihm und den Leser*innen allerdings einen Strich durch die Rechnung, denn die Panikattacke des Nachwuchses lässt sich mit Hausmitteln lindern. Dies stürzt den Vater erst recht in tiefere Verzweiflung. Mit jeder Wendung entfernt sich der Protagonist weiter von einem Wesen, mit dem wir mitfühlen, ohne dass man ihn als Unmenschen brandmarken könnte.

„Südliches Lazarettfeld“, der Text, der den Band eröffnet, operiert ähnlich. Er beginnt als scheinbar autobiografisch angehauchte Erzählung eines österreichischen Schriftstellers, der für eine Lesung nach Kanada reist – das Spiel mit der eigenen Person gehört bei Setz schon lange zum postmodernen Repertoire. Nachdem der Ich-Erzähler rund 20 Seiten Banales zur Reisevorbereitung und zur Warterei am Flughafen ausgebreitet hat, kommt in den letzten Abschnitten – sein Flug wurde gestrichen – zurück in seine Wohnung. Dort erwarten ihn sieche und verwahrloste Männer, die über alle Zimmer verstreut auf dem Boden liegen. Ob Krieg, Terror oder Flüchtlingskrise, passende Assoziationen liegen sofort bereit, aber eine Erklärung verweigert der Erzähler.

Die Realität überwinden

Auch stilistisch zieht einem Clemens Setz gerne den Boden unter den Füßen weg und erweist sich als Erbe von Donald Barthelme, dem Meister des Non sequitur, den das Alter Ego des Autors in „Südliches Lazarettfeld“ in seiner Tasche mit sich trägt. „In diesem Augenblick lagen genau zwei Golfbälle auf dem Mond, und es war Zeit für die Hausaufgaben“, lautet so ein typischer Setz-Satz, dessen Konjunktion nur mühsam kaschiert, dass zwischen diesen beiden Aussagen natürlich kein Zusammenhang besteht.
Ständig biegt man in dieser Prosa in unbekannte Nebenstraßen der Sprache ab und wird so gezwungen, die eigene Wahrnehmung neu zu kalibrieren. Für Irritation sorgt auch ein Spiel mit kleinen Motiven, Phrasen und Namen, die zwischen den Geschichten wiederholt werden und eine Geschlossenheit des Setz’schen Universums suggerieren, die es so nicht gibt.

‹Der allgemeine Trost runder Dinge› ist etwas, für das die Dauer eines normalen Menschenlebens glücklicherweise nicht ausreicht, um dagegen immun zu werden“, heißt an einer Stelle, und dieser Satz lässt sich gewissermaßen auch poetologisch lesen.

Die Erzählungen in „Der Trost runder Dinge“ werden ihre Geheimnisse nicht preisgeben, aber man kann sich durch sie einer gehörigen Deregulierung aller Sinne unterziehen und den Einfalls- und Metaphernreichtum des Autors bewundern. Freilich, auf über 300 Seiten sind Frustmomente und Ermüdungserscheinungen nicht ausgeschlossen, während hinter der Magie der Texte gelegentlich auch der ein oder andere Taschenspieltrick stecken könnte. Wer an Literatur interessiert ist, die Wirklichkeit nicht spiegeln, sondern überwinden möchte, kommt an Setz jedenfalls nicht vorbei.