„Im Netz tut sich eine neue Kluft auf“ – Die Historikerin Valérie Schafer über den Einfluss des WWW in Luxemburg

„Im Netz tut sich eine neue Kluft auf“ – Die Historikerin Valérie Schafer über den Einfluss des WWW in Luxemburg

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Das World Wide Web ist aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Die Erfindung des CERN-Forschers Tim Berners-Lee hatte auch für die Gesellschaft in Luxemburg tiefgreifende Folgen. Im Luxemburgischen Zentrum für Zeit- und Digitalgeschichte der Universität Luxemburg beschäftigt sich Valérie Schafer, Expertin für Telekommunikations- und Zeitgeschichte, mit dem Einfluss des Webs in Luxemburg. Ein Gespräch über Mehrsprachigkeit im Web, Anonymität und extremistische Meinungen.

Tageblatt: Wieso interessieren Sie sich als Forscherin für die Entwicklung des World Wide Web in Luxemburg?

Valérie Schafer: Zwei Dinge faszinieren mich am Luxemburger Netz. Erstens: Guichet.lu, mit dem Bürger sich online mit staatlichen Stellen Informationen austauschen können. Die Webseite ist ein Vorbild für andere EU-Länder. Sie leistet einen Beitrag zur Integration. Die sprachlichen Barrieren werden klein gehalten und der Behördendschungel wird übersichtlicher.

Das speist sich aus der Geschichte Luxemburgs, das eben sehr multikulturell ist. Ich bin als Französin in einem Land aufgewachsen, dass im Netz nicht so vielfältig wie Luxemburg ist. Das ist der zweite Punkt, der meine Forschung so spannend macht: Die Mischung der unterschiedlichen Sprachen und Kulturen auf den Webseiten zu verfolgen.

Wie stellt sich denn die Mehrsprachigkeit in Luxemburgs Teil des Internets dar?

Die Nationalbibliothek archiviert derzeit das luxemburgische Netz (siehe Kasten). Die Archivare haben herausgefunden, dass Englisch erstaunlicherweise die meistgenutzte Sprache ist. Französisch kommt nur auf Platz zwei. Dass ein Netz in vier Sprachen funktioniert, ist sehr außergewöhnlich.

Das Web archivieren

Die Nationalbibliothek hat seit 2016 den Anspruch, auch die Veröffentlichung des World Wide Web zu archivieren.

Für die Archivare fallen Online-Publikationen unter den luxemburgischen Archiv-Zwang. Abgespeichert wird alles, was für sie zum „Luxemburger Web» gehört: Etwa 100.000 Seiten, die auf dem Domain .lu laufen, und alles was von, über und in Luxemburg auf dem Web publiziert wird, beispielsweise Webseiten von luxemburgischen Betrieben oder Blogs von luxemburgischen Autoren.

„Natürlich ist es schwierig, alles zu 100 Prozent zu archivieren, aber wir sind so inklusiv wie möglich“, sagt der zuständige Archivar Ben Els. Aktuell werden alle beobachteten Webseiten zweimal im Jahr abgespeichert. Das Archiv hat momentan einen Umfang von 56 Terabyte und wächst ständig weiter. Interessierte können auf den Computern der Nationalbibliothek im Web-Archiv stöbern.

Welche Rolle spielt das Luxemburgische im Web?

Laut der Nationalbibliothek kommt Luxemburgisch in den Webarchiven erst an vierter Stelle. Am meisten ist die Sprache im „User-generated Content“ verbreitet – in Kommentaren, Blogs oder Posts. Die Webseiten selbst sind eher in Englisch, Französisch oder Deutsch.

Die Archivare der Nationalbibliothek haben vor allem bei den Wahlen Daten aus dem Netz intensiv archiviert. Diese Archivierung erlaubt uns eine Analyse dieser Zeit. Welche Sprache wurde auf welchem Kanal genutzt? Gab es Themen, die in einer Sprache mehr als in einer anderen diskutiert wurden? Welcher Politiker nutzte wann welche Sprache? Aber bis wir darauf Antworten gefunden haben, braucht es noch weitere Recherchen.

Luxemburgs Behörden sollen Informationen „im Rahmen des Möglichen“ in allen offiziellen Sprachen zugänglich machen. Das gilt auch für das Netz. Ist Luxemburg damit etwas Besonderes?

Was Luxemburg aber auszeichnet, ist der Wert, den man der Mehrsprachigkeit beimisst.  Dabei ist der Wunsch, in mehreren Sprachen auf Informationen zugreifen zu können, durchaus verständlich. Vor allem, wenn es um offizielle Texte geht, bei denen jedes Wort zählt. Einzigartig ist Luxemburg mit seinem mehrsprachigen Web aber nicht – in der Schweiz ist die Situation ähnlich und auch weltweite Organisationen publizieren in mehreren Sprachen. Der Anspruch Luxemburgs, allen Bürgern den Zugang zu Informationen zu eröffnen, ist außergewöhnlich. Insbesondere in einem Netz, das immer englischsprachiger wird.

Am Anfang wurde dem Internet vorgeworfen, die Schere zwischen Arm und Reich weiter zu öffnen, weil nicht jeder sich einen PC kaufen konnte. Gilt das noch heute?

Früher gab es tatsächlich diese „digitale Kluft“. Heute sind wir aber fast alle online – über Smartphones, Tablets und den PC. Auch in Sachen Infrastruktur hat sich viel getan.

Doch dafür hat sich eine „kognitive Kluft“ aufgetan. Die Frage lautet heute: Wer „konsumiert“ nur auf dem Web – bestellt Produkte, sieht sich Videos an – und wer nutzt das Web als Informationsquelle? Wer kann mit der Datenansammlung kritisch umgehen und die wichtigen und echten Nachrichten herausfiltern und verstehen?

Wie kann man diese neue Kluft überwinden?

Nur Zugriff auf Informationen zu haben, reicht nicht aus. Sie müssen für alle leicht verständlich sein, zum Beispiel auch für Menschen mit einer Behinderung. Diese Inklusion ist eine der Herausforderungen des Webs.

Auch der Bildungsstand trägt wesentlich dazu bei, wie kompetent sich Menschen im Web bewegen. Deswegen ist es wichtig, den Jugendlichen einen kritischen Umgang mit dem Netz beizubringen. Dazu gehört, Informationen zu hinterfragen. Und, wie man sich selbst etwa vor Datenklau oder Mobbing schützt. Man muss jungen Menschen auch vermitteln, wie sie das WWW gezielt zum Lernen nutzen können. Das Netz sollte für sie nicht nur etwas sein, in dem man ohne nachzudenken herumklickt und alles likt oder retweetet.

30 Jahre WWW: Das Netz und Luxemburg

„Klick!“ Am 12. März 1989 schlug der Brite Tim Berners-Lee im Forschungszentrum CERN ein System vor, mit dem sich Wissenschaftler einfacher über das Internet austauschen können: Das WWW war geboren.

Die Redakteure des Tageblatt-Webdesks berichten in den folgenden Wochen, wie WWW und Internet in Luxemburg Einzug gehalten haben – und wie das Netz von heute funktioniert.

Alle Artikel unserer WWW-Serie finden Sie hier.

User treffen im Netz auch auf extremistisches Gedankengut. In Foren, Chats oder Kommentarbereichen verstecken sich die Verbreiter davon gerne hinter Pseudonymen. Fördert die Anonymität extremistische Strömungen?

Das Netz und insbesondere die Sozialen Medien fördern sicherlich sogenannte Echokammern, in denen sich Meinungen schnell verstärken. Meinungen, die früher Schwierigkeiten hatten, gehört oder ernst genommen zu werden. Durch die Technik ist es auch einfacher geworden, Gleichgesinnte zu finden und sich mit ihnen auszutauschen.

Sicherlich fällt es leichter, unter falschem Namen eine extreme Position zu vertreten oder über andere herzuziehen. Aber ich denke, man kann sich dabei auf die Korrekturfunktion der Gesellschaft verlassen. Eine Fake-News wird oft ebenso schnell widerlegt, wie sie auf den Sozialen Medien erscheint. Man muss dieser Auto-Regulation vertrauen.

Wären die Probleme nicht schneller gelöst, wenn man die Anonymität im Netz abschafft?

Zunächst ist das, was wir heute anonym nennen, oft nur eine Pseudoanonymität. Über Profilinformationen und IP-Adressen ist es meistens doch möglich, die Personen hinter den Posts zu identifizieren. Man sollte diese Pseudoanonymität aber nicht verdammen: Die Freiheiten, die sie schafft, werden längst nicht nur von „Trollen“ genutzt. Viele Menschen würden sich nie äußern, wenn sie ihren Namen nennen müssten – aus Angst, schlecht in den Augen anderer dazu stehen oder zu viele Informationen von sich preiszugeben. Dazu zählen Selbsthilfegruppen oder Kontaktbörsen.

Es ist besser den Nutzern – besonders Jugendlichen und Kindern – die Grundwerte des guten Miteinanders zu vermitteln. Mobbing darf nicht toleriert werden. Und wer Ziel von Angriffen im Netz wird, muss die Möglichkeit haben, diese zu melden. Es muss deutlich werden, dass man sich im Internet nicht außerhalb des Gesetzes bewegt. Die Anonymität abzuschaffen wäre jedoch falsch.