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Filmkritik zu „Beautiful Boy“: Ein Sohn, ein Vater, eine Sucht

Filmkritik zu „Beautiful Boy“: Ein Sohn, ein Vater, eine Sucht

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Eigentlich könnte der neue in den USA gedrehte Film des belgischen Regisseurs Felix Van Groeningen ebenso gut in Luxemburg spielen. Ersetzen wir das Meer durch den Stausee, den alten Kombi durch einen überteuerten SUV und den riesigen Flughafen durch unseren klitzekleinen Findel. Die Handlung passt hingegen auch so: Ein wohl behütet aufgewachsenes Mittelstandskind pubertiert, probiert sich irgendwann am Rausch aus, leckt Blut und hat Schwierigkeiten, aufzuhören. In der Folge fragt sich ein Elternteil, wie das alles nur passieren konnte. Versucht, zu helfen. Und scheitert.

Van Groeningen gelingt es in „Beautiful Boy“ relativ zügig, den Zuschauer an einen Punkt zu bringen, bei dem er sich eventuell dabei erwischt, einzusehen, wie klischeehaft er eigentlich zu denken pflegt. Denn: Nein, nicht nur arme, kriminelle Ausländer konsumieren Drogen und haben Probleme, sich dem Konsum gänzlich zu entziehen. Und nochmal nein: Auch das gemachteste warme Nest schützt nicht davor, Gefallen an etwas zu finden, das – zumindest dem eigenen Gefühl nach – stärker werden kann als man selbst.

Der Filmemacher aus Gent präsentiert uns eine kleine Patchwork-Familie, in welcher der älteste Sohn Nic (Timothée Chalamet) bei seinem Vater David (Steve Carell) aufwächst, der ihm Zuneigung, Vertrauen und Verständnis entgegenbringt. Die Bande in diesem Vater-Sohn-Verhältnis sind eng gespannt und es lässt sich nicht direkt erahnen, dass beide in der Folge genau daran zu ersticken drohen werden.

Gemeinsamer Joint als rekreativer Einsatz

Zu Nics Abi-Abschluss gönnen beide sich sogar einen gemeinsamen Joint und sprechen darüber, dass der rekreative Einsatz von Substanzen nicht a priori zu verurteilen ist. Als sich beide dann einige Zeit später erstmals im Auto Richtung Entzugsklinik befinden, klingt das damalige Gespräch wohl nur noch für den Vater nach. Der Sohn hingegen kommunizierte schon damals, dass er sich von der Realität emanzipieren möchte, da er diese zeitweilig nicht mehr erträgt.

Ein Satz, der sich mehrmals im Film wiederholt, lautet: „Relapse is part of recovery“ (Rückfälle gehören zur Genesung dazu). Eine im Bereich der Therapie mit Suchtkranken geläufige These. Einerseits enthält sie ein Plädoyer dafür, Rückfälle nicht als Scheitern abzutun und somit zu vermeiden, die Betroffenen vorschnell als Verlierer gegenüber sich selbst darzustellen.

Außerdem trägt dieser Befund dem prozesshaften Charakter eines Entzugs sowie des Wegs hin zu einer späteren Abstinenz Rechnung. Er erkennt die potenzielle Langwierigkeit an und weist darauf hin, dass die nötigen Schritte häufig mit einem extremen Umkrempeln der Verhaltensweisen in Zusammenhang stehen, die sich nicht von heute auf morgen verändern lassen. Und vor allem von der betroffenen Person selbst und nicht von jemand Außenstehendem gewollt sein müssen.

Endlosschleife

Benannter Satz wird erstmals von der Mitarbeiterin einer Entzugsklinik ausgesprochen und sorgt für Entrüstung beim Vater, der sich Wochen zuvor die Erfolgsquote der Klinik nennen ließ und sich an ihr festklammerte. Erst im Laufe der im Film abgebildeten, sich ständig wiederholenden negativen Erfahrungen, die Vater und Sohn in Bezug auf die Sucht machen, wird Ersterem klar, was noch hinter diesen wenigen Worten stecken kann.
In „Beautiful Boy“ geht es demnach weniger um die Sucht selbst als vielmehr um den Umgang mit ebendieser. Es ist zwar mehrfach die Rede vom Methamphetamin (wird im Volksmund als „Aufputscher“ bezeichnet) Crystal Meth, dennoch steht die Tatsache, dass es sich gerade um diese Substanz handelt, nicht unbedingt im Vordergrund, da man das gezeigte Verhalten auch bei anderen Stoffen wiederfindet.

Zudem glaubt man auch nur vordergründig, es ginge lediglich um eine Person, welche mit dem eigenen Suchtverhalten zu kämpfen hat. Eigentlich findet man hier aber eine klassische Form von Co-Anhängigkeit vor. Hierbei handelt es sich um ein Phänomen, bei dem Bezugspersonen oder Angehörige von Suchtkranken – meist ohne dies bewusst zu tun – das selbstgefährdende Verhalten der Menschen, denen sie dabei helfen möchten, aufzuhören, ungewollt bestärken und stützen.

Suchtähnliches Verhalten bei den Begleitern

Durch die unmittelbare Nähe zueinander kann ein suchtähnliches Verhalten bei den Begleitern entstehen, das sich nicht zwingend im Konsum derselbigen Substanz zeigt, sondern eher im ungesunden Benehmen, das sich angleicht. Nicht nur Nic wird immer wieder rückfällig. Jedes Mal, wenn sein erwachsener Sohn verschwindet, begibt sich auch David erneut auf die Suche nach ihm, um ihn dann zwar reumütig, aber eben auch alles andere als nüchtern, teilweise in Lebensgefahr schwebend zu bergen. Beide gewöhnen sich auf ihre eigene Weise an dieses ungesunde Wechselspiel. Wenn auch die Spielorte variieren, so hält der Handlungsstrang bewusst stetige Wiederholungen bereit. Verändern tun sich lediglich die Abstände zwischen Nics nüchternen und nicht-nüchternen Zuständen.
Da nicht der Konsum selbst im Vordergrund steht, wird auf Effekthascherei bei den zahlreichen Szenen, in denen unterschiedliche Substanzen konsumiert werden, verzichtet. Die Bildästhetik entspricht keineswegs jener künstlerisch-experimentellen, die man beispielsweise aus Aronofskys „Requiem for a Dream“ kennt oder Gaspar Noés „Enter the Void“, das die Optik eines Halluzinogen-Trips hat und überwiegend aus der Ego-Perspektive gedreht ist.

Mehr oder weniger passend zum Thema sieht man sich hier einer relativ nüchternen Kameraführung gegenüber. Es kann der Eindruck entstehen, das ebendiese „Nüchternheit“ als Provokation gedacht ist, da sie in einem extremen Gegensatz zum harten Thema steht. Die Bildsprache passt sich in keinster Weise den gezeigten dramatischen Umständen an. Ein subversiver Griff durch den man verstehen lernen kann, dass das an der Oberfläche Sichtbare in keinem Verhältnis zu dem steht, was lebensgefährliche Süchte im Inneren verursachen können? Vielleicht.

Im Kontrast dazu steht der Soundtrack. Dass Felix Van Groeningen es versteht, seine Inhalte anhand von Musik zu verstärken oder sie gar noch unerträglicher auf der konfrontativen Ebene zu machen, bewies er bereits in „The Broken Circle Breakdown“. Zwei junge Eltern verlieren hier ihr schwerkrankes Kind. In diesem Streifen dient das Bluegrass-Genre (eine melancholische Unterkategorie des Country) nicht nur als dekoratives Element, sondern ist fester Bestandteil des Films, da der Vater Sänger einer Band ist und seine Frau ab und an mit auftritt. Deren Ehekrise macht sich auch in deren gemeinsamen Gesangseinlagen bemerkbar. Es entsteht eine, wenn auch nicht hörbare, so doch spürbare Disharmonie zwischen beiden.

Gefühlsverstärker

Auch bei dem aktuellen Film bedeutet die Musikauswahl eine zweite Erzählebene. Für „Beautiful Boy“ war der gleichnamige Song John Lennons stilprägend. Direkt in den ersten Zeilen heißt es: „Close your eyes, Have no fear, The monster’s gone, He’s on the run And your daddy’s here“. David singt sie in einer Rückblende, die beide mehr als ein Jahrzehnt früher zeigt. Der kleine Nic bittet seinen Vater, beim Zubettgehen, auf ihn aufzupassen. Der Vater begleitet ihn mit diesen sanften Worten in den Schlaf.

Auch im Song „Protection“ der Trip-Hop-Band Massive Attack aus dem Jahr 1994 geht es um das Bedürfnis, jemanden zu schützen, gar retten zu wollen, aber eben auch um die Frage, ob man dies wirklich gewährleisten kann. Die Anfang der 70er gegründete Progressive-Rock-Band Pavlov’s Dog bringt mit „Of Once and Future Kings“ die Thematik des Kampfes (mit sich selbst) ein.

Dann bedient sich Van Groeningen ebenfalls mehrerer Genres, die einerseits als durchaus geeignete „Trip-Musik“ bezeichnet werden könnten, andererseits aber eben auch die perfekte Musik darstellen, um sich in einer tiefgründigen Selbstreflektion zu verlieren. Gemeint sind unter anderem die Post-Rock-Band Mogwai, die isländischen Minimalisten von Sigur Rós, der experimentelle Electro-Künstler Aphex Twin oder auch der brasilianische Produzent Amon Tobin, der für seine extrem abstrakten, aber eindrücklichen Werke bekannt ist. All diese Künstler liefern weitaus mehr als begleitende Hintergrundmusik, je nach ohnehin vorhandener Intensität auf der inhaltlichen Ebene wird durch sie die Wahrnehmung geschärft, es findet ein packender Moment statt, der einen nicht wegrennen, sondern mehr oder weniger freiwillig in die Denkspirale hineingleiten lässt.
In Bezug auf die schauspielerische Leistung kann man etwas ins Hadern geraten, denn die Bewertung der Leistung der beiden Protagonisten hängt wohl sehr stark davon ab, in was man die Rolle der beiden sieht. Timothée Chalamet gelingt es durchaus, das gebrechliche, melancholische halbwegs erwachsene Kind zu mimen, dass sich scheinbar mehr dafür hasst, den treusorgenden Vater zu enttäuschen, als dafür, das eigene Leben regelmäßig zu gefährden. Als „Berauschter“ hat sein Schauspiel in mehreren Szenen etwas Gestelztes, das dem Ganzen eine etwas ungewollte Komik verleiht.

Versagt Steve Carell?

Steve Carell wirkt zeitweilig so, als habe er nur zwei Gesichtsausdrücke parat, nämlich traurig-besorgt und sauer. Es wird nicht wirklich klar, ob ein ironisches Augenzwinkern in Richtung jener Helikopter-Eltern praktiziert wird, die, weil sie funktionieren wollen, alles andere ausschalten und eben nur einen Modus kennen, dann aber auch richtig ausflippen, wenn ihr Gesamtkonzept nicht richtig aufgeht, oder ob Carell schlicht und ergreifend versagt.

Den Dialogen fehlt es zeitweilig an Tiefe, dafür aber nicht an Pathos. Nichtsdestotrotz bildet „Beautiful Boy“ gleich mehrere Realitäten ab, die man – wie bereits erwähnt – auch in Luxemburg vorfindet. Er sensibilisiert, ohne dem Publikum mit dem erhobenen Zeigefinger die Sicht zu versperren, und lässt Raum für Diskussionen. Auch wenn wir hier sicherlich nicht das Meisterstück Van Groeningens vor uns haben, so sollte man sich doch für diese interessante Arbeit in die Kinos bewegen.