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Kampf gegen die Gangster-Dschihadisten: Ein Experte über das Straßburger Attentat – und Behördenversagen

Kampf gegen die Gangster-Dschihadisten: Ein Experte über das Straßburger Attentat – und Behördenversagen

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Ein Straßburger erschießt in Straßburg Besucher des Weihnachtsmarkts. Die ganze Welt geht gleich von einem Terroranschlag aus. Dass das so einfach nicht ist, erklärt Peter Neumann. Der Experte für Radikalisierung spricht auch über die Gefahren in Gefängnissen und legt offen, wer die vergangenen Jahre in der Terrorprävention versagt hat.

Tageblatt: Der Attentäter, der vor einer Woche in Straßburg fünf Menschen ermordete, war mehrmals vorbestraft und wurde von Frankreichs Behörden als Gefährder geführt. Trotzdem ist es zu dieser Tat gekommen. Was ist da schiefgelaufen?

Zur Person:

Peter Neumann, geboren 1974, war von 2008 bis 2018 Direktor des von ihm gegründeten „International Centre for the Study of Radicalisation“ am Londoner King’s College. Der Professor gilt als Experte für islamistischen Terror. Neumann wertete für seine Forschung die Facebook-, Twitter- und Instagram-Profile von Briten aus, die als Dschihadisten in Syrien und dem Irak kämpfen. So sammelte er einen Datensatz mit 700 europäischen Dschihadisten, von denen 85 Prozent für den „Islamischen Staat“ kämpfen. Neumann wurde Anfang 2017 zum Terror-Sonderbeauftragten der OSZE ernannt.

Peter Neumann: Deutlich wurde mit diesem Fall, dass der Datenaustausch der europäischen Behörden offensichtlich immer noch nicht funktioniert. Der Attentäter ist nach Deutschland, in die Schweiz und auch nach Luxemburg gefahren, hat dort Einbrüche verübt. In Deutschland saß er dann im Gefängnis – und die deutschen Behörden hatten keine Ahnung, dass es sich nicht nur um einen Einbrecher handelt, sondern diese Person von den französischen Behörden bereits als Gefährder geführt wurde. Eigentlich müsste man denken, dass Daten über terroristische Gefährder routinemäßig, systematisch und kontinuierlich ausgetauscht würden, aber offensichtlich ist das immer noch nicht der Fall.

Dabei wurde in der Vergangenheit schon Besserung gelobt.

Vor 2015 hat gar kein Austausch stattgefunden, das war katastrophal. Nach 2015, nach den Anschlägen vom 13. November in Paris, haben die Franzosen Druck gemacht. Einiges hat sich auch bewegt. Bei Europol wurden Datenbanken eingerichtet. Aber dann hat es auch wieder aufgehört. Das Problem ist nach wie vor, dass dieser Datenaustausch zwischen europäischen Sicherheitsbehörden auf dem Prinzip der Freiwilligkeit beruht. Es gibt keine Verpflichtung, diese Daten an die Europol- oder andere Datenbanken wie das Schengen-Informationssystem zu melden. Was wiederum bedeutet, dass Terroristen frei reisen können, während die Sicherheitsbehörden nach wie vor nicht nahtlos miteinander kommunizieren. Ich mag es nicht übertreiben, aber wenn man das normalen Leuten erklären würde, dann würden alle den Kopf schütteln – wie kann das sein, dass das immer noch nicht funktioniert? Das ist eines der großen Probleme, die durch diesen Fall wieder offensichtlich wurden.

Ich zähle mich zu den normalen Leuten, was muss sich denn ändern oder vielmehr: Wer muss etwas ändern?

Mit der europäischen Koordination ist es so, dass sie immer beschworen wird. Es gibt immer wieder diese Absichtserklärungen: Wir machen das jetzt! Aber in dem Moment, wo die Bürokraten sich mit dem Thema beschäftigen, gibt es unglaublich viele Hindernisse – und es kommt niemals wirklich voran. Deshalb ist es wichtig, dass das von der politischen Spitze her mit großem Nachdruck betrieben wird. Es ist nicht verständlich, warum bis heute die Sicherheitsbehörden im Schengenraum nicht gegenseitig vollständig ihre theoretischen Gefährdernamen miteinander austauschen. Da muss doch endlich mal etwas passieren! Das Beispiel macht das besonders deutlich: Deutschland liegt direkt gegenüber vom Rhein, zur Schweiz ist es nicht weit und auch bis nach Luxemburg sind es nur zwei Stunden mit dem Auto – man sieht, das betrifft viele europäische Staaten. Und dazu haben wir im Elsass seit vielen Jahren eine sehr aktive dschihadistische Szene, die auch international aktiv ist.

Wo sehen Sie die anderen Probleme?

Wir haben dazu das Phänomen, dass wir in Europa mittlerweile eine sehr hohe Zahl von terroristischen Straftätern haben, die vorher Kleinkriminelle waren. Also vorher zum Teil eine große Zahl von „gewöhnlichen“ Straftaten begangen haben und die durch ihre Vergangenheit in der Kriminalität besondere Fähigkeiten mitbringen: Zugang zu Waffen, Zugang zu gefälschten Dokumenten – und die in vielen Fällen bereits eine hohe Gewöhnung an Gewalt haben. Weil sie schon als Kriminelle in Gewalt involviert waren, geht die Radikalisierung in die Gewalt häufig sehr schnell vonstatten. Es braucht demnach weniger Zeit, bis ein bereits gewalttätiger Krimineller zum gewalttätigen Terroristen wird. Das ist ein Phänomen, das nicht ganz neu ist, aber das stärker geworden ist mit dem Islamischen Staat und stellt die Sicherheitsbehörden vor große Herausforderungen.

Aber können wir dann noch von Radikalisierung in einem ideologischen Sinn sprechen oder ist das nicht vielmehr eine Radikalisierung in der Gewalt?

Diese Frage wird auch unter Wissenschaftlern sehr intensiv diskutiert. Zum einen ist klar, dass diese Kleinkriminellen, die zu terroristisch motivierten Gewalttätern werden, häufig ein weniger großes religiöses Verständnis haben und auch weniger Interesse haben als etwa die Al-Kaida-Terroristen vor 20 Jahren. Nehmen wir diese Prototyp-Hamburg-Zelle „11. September“. Das waren Studenten aus dem Nahen Osten, die eigentlich gar keine so schlechten Aussichten gehabt haben. Die haben sich jeden Abend in ihrer Wohnung getroffen, haben Religion und Theologie miteinander diskutiert und Tee getrunken. Das war ein ganz anderer Typus als die heute, die häufig eben kein besonders gutes Verständnis von Religion haben, auch an Theologie häufig nicht besonders interessiert sind. Trotzdem glauben sie daran, dass sie gewissermaßen ins Paradies kommen. Es gibt da schon Versatzstücke religiöser Ideologie. Die sind nicht besonders ausgeprägt und nicht besonders intellektuell unterfüttert, spielen aber eine Rolle.

Inwiefern macht sich die Terrororganisation Islamischer Staat dies zunutze?

Der IS ist im Prinzip so eine Art Gang, verkauft sich auch gegenüber Anhängern als eine Art Gang und sagt, ihr könnt bei uns all das finden, was ihr in eurer vorigen Gang auch gefunden habt. Dieses Gemeinschaftsgefühl, die Identität, die Stärke, das Mächtigsein – plus: Ihr kommt noch ins Paradies dafür! Ihr könnt alles weitermachen, was ihr bereits vorher gemacht habt, und eure Sünden werden euch vergeben. Das ist genau die Ansprache, die wir in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden oder Belgien gesehen haben. In all diesen Staaten, in denen sich große Zahlen von Kleinkriminellen zum Dschihad hingewendet haben.

Viele der Familien der jungen Täter sind seit zwei, drei Generationen in Europa. Nutzt der IS eine nicht gelungene Integration aus?

Es ist nicht so, dass der IS sagt: O.k., jetzt rekrutieren wir mal Kriminelle. Aber die Rekrutierer des IS sind an den gleichen Orten wie die jungen Männer, die kriminelle Erfahrungen mitbringen oder vorbestraft sind – in den Vororten von Paris oder etwa in Molenbeek in Brüssel. Wo der IS rekrutiert hat, ist ein hoher Prozentsatz junger Männer mit migrantischem Hintergrund auch in Kleinkriminalität verwickelt. Die sind nicht Teil der Organisierten Kriminalität, das sind keine großen Mafiosi, das sind Kleinkriminelle, die an der Ecke Drogen verkaufen, die Einbrüche begehen, die Handys stehlen, Mitglieder von Gangs.

Sie haben die Orte der Rekrutierung angesprochen. Dazu gehören auch Europas Gefängnisse. Nicht in allen, aber in vielen Fällen hat die Hinwendung zu dschihadistischen Netzwerken in Gefängnissen begonnen. Wo liegen hier die Probleme?

Die Gefängnisse haben zwar auch schon vor 20 Jahren eine Rolle gespielt. Aber durch dieses Phänomen der Kleinkriminellen ist diese Rolle noch einmal gewachsen. Da kommen drei Faktoren zusammen. Erstens haben Menschen, die ins Gefängnis kommen, das, was Wissenschaftler als eine kognitive Öffnung bezeichnen: Sie machen sich Gedanken über ihr Leben, sie haben existenzielle Krisen, überlegen sich, was sie falsch gemacht haben – und sind auch bereit, einen völlig anderen Lebensentwurf anzunehmen.

Deswegen sind immer schon religiöse Gruppen ins Gefängnis gegangen. Weil sie gewusst haben, dort Leute zu finden, die bereit sind, ihr Leben noch einmal ganz neu anzufangen. Der zweite Faktor ist, dass man im Gefängnis qua Definition von seinen ganzen traditionellen Netzwerken abgeschnitten ist. Man hat keine Familie, keine Freunde, die man täglich sieht. Und wenn es ein schlechtes Gefängnis ist, muss man sich sehr schnell ein neues soziales Netzwerk aufbauen, um den entsprechenden Schutz zu bekommen. Drittens sind die, die ins Gefängnis gehen, oft junge Männer, die Probleme mit der Staatsgewalt haben. Und in allen europäischen Staaten sind junge Menschen mit Migrationshintergrund sehr überrepräsentiert in Gefängnissen. Diese drei Faktoren zusammengenommen – kognitive Öffnung, Abgeschnittenheit, Demografie –, wird ersichtlich: Das ist die ideale Zielgruppe für Extremisten.

Wie läuft die Radikalisierung dann ab?

Wenn Sie im Gefängnis einen haben, der extremistisch orientiert ist, dem fällt es relativ leicht, Anhänger um sich zu scharen, sich als Führungsfigur darzustellen. Das ist das Muster, das wir immer gesehen haben. Und besonders oft ist es passiert in Gefängnissen, die chaotisch waren, wo die Gefängnisleitung die Kontrolle verloren hatte. In der Vergangenheit war das, man muss das leider so sagen, häufig in Frankreich der Fall.

Auch die Charlie-Hebdo-Attentäter haben sich alle in einem Gefängnis kennengelernt …

Ja, einem Gefängnis, das sogar Amnesty International kritisiert hatte wegen chaotischer Zustände. Das waren Umfelder, wo es einfach wurde, Extremisten zu rekrutieren

Wie lassen sich diese Zustände beheben?

Erstens braucht es ordentliche, gut ausgestattete Gefängnisse, wo die Gefängnisleitung weiß, was vor sich geht. Zweitens muss das Gefängnispersonal, müssen die Wärter, die jeden Tag Kontakt mit den Gefangenen haben, dafür trainiert werden, dass sie Frühzeichen erkennen. Dass sie merken, wenn ein Extremist versucht, Leute anzuwerben. Aber dass sie auch merken, dass nicht jeder, der sich einen Bart wachsen lässt, gleichzeitig ein Extremist ist. Es ist wichtig, dass nicht der Direktor des Gefängnisses über Radikalisierung Bescheid weiß, sondern tatsächlich die Leute, die jeden Tag mit den Gefangenen in Kontakt sind. Drittens muss es eine flächendeckende Versorgung geben mit moderaten Imamen.

Wieso braucht es Imame im Gefängnis?

Damit Leute, die ins Gefängnis kommen und die sich genau diese existenziellen Fragen stellen, manchmal spirituelle Probleme haben, eine moderate Person haben, an die sie sich wenden können. Es ist völlig normal, dass man sich im Gefängnis zur Religion hinwendet. Das gab es immer in Gefängnissen, in allen Kulturen, das ist ein bekanntes Phänomen. Und da muss es möglich sein, einen moderaten Ansprechpartner zu haben, der sich diesen spirituellen Bedürfnissen annimmt.

Gibt es davon nicht genug?

Da haben sich in der Vergangenheit besonders die Franzosen sehr, sehr schwer getan – wegen des Prinzips der Laizität –, auch muslimische Seelsorger in die Gefängnisse zu lassen, damit die sich mit den Gefangenen beschäftigen. Das wird jetzt nachgeholt, ist aber noch nicht flächendeckend der Fall. Auch in Deutschland gibt es da noch große Defizite. Das eine Land, das es wirklich gut macht, sind die Niederlande. Die haben bereits vor 15 Jahren damit angefangen und haben wirklich in allen Gefängnissen eine Versorgung durch staatlich geprüfte, moderate Imame.

Die Biografien vieler Attentäter aus jüngster Zeit lassen vermuten, dass diese jungen Männer gesellschaftlich vielleicht keine Perspektive mehr für sich gesehen haben. Müsste in diesem Kontext nicht häufiger von einem Amoklauf als einem Terroranschlag gesprochen werden?

Die Grenzen sind manchmal fließend. In dem Moment, wo der Attentäter eine politische Motivation für sich in Anspruch nimmt und das auch ausdrückt, wird das zu einer terroristischen Tat. Aber natürlich können sich diese Fälle sehr ähneln. Und die Wissenschaftler streiten sich bei verschiedenen Fällen bis heute, ob das tatsächlich politisch motiviert oder nicht doch eher eine kriminelle Straftat war. Eine weitere Dimension ist, dass in manchen Fällen die Attentäter auch psychologische Probleme haben. Das haben wir vor wenigen Wochen in Köln gesehen. Da gab es eine Geiselnahme am Bahnhof und der Geiselnehmer hat gedroht, alle umzubringen und dabei „Islamischer Staat!“ gerufen – aber gleichzeitig war das einer, der ganz erhebliche psychische Probleme hatte. Da sind wir in einem Graufeld, wo die Zuordnung in die eine oder andere Kategorie schwierig ist.

Wie schätzen Sie die Straßburger Tat ein?

In dem Fall ist es zu früh, um sich festzulegen. Wir müssen zuerst mehr darüber hinausfinden, in welchen Maßen er tatsächlich Teil dieser dschihadistischen Netzwerke war, wie lange er involviert war, in welchem Maße er sich beteiligt hat und wie sehr er tatsächlich daran geglaubt hat.

Wenn allen Taten gleich ein Terrorhintergrund verpasst wird, macht man damit nicht vor allem dem IS einen Gefallen?

Natürlich. Darauf zielt der IS zum Teil ab. Teil seiner Strategie ist, Leuten, die Probleme vielleicht psychischer oder auch materieller Natur haben, eine Art Projektionsfläche zu bieten. So dass sie diese Ideologie in Anspruch nehmen können und die eigene Tat, die möglicherweise durch etwas anderes motiviert ist, dann noch einmal größer zu machen und noch einmal in einen viel breiteren politischen Kontext zu rücken, der vielleicht gar nicht gerechtfertigt ist. Das beabsichtigt der IS, wenn er sagt: Jeder, der Lust darauf hat, kann im Prinzip die Marke IS für sich in Anspruch nehmen.

Und wenn uns das gut gefällt, dann deklarieren wir diese Person zum Soldaten des Kalifats – und das ist ja offensichtlich in Straßburg geschehen. Dadurch lässt der IS den Eindruck entstehen, als sei die Organisation noch viel größer und viel mächtiger als sie eigentlich ist. Das ist eine Strategie, die zum Teil auch funktioniert: Der IS gibt jedem die Möglichkeit, egal was ihn antreibt, Teil dieser Bewegung zu werden.

Wie es in Luxemburg im Gefängnis aussieht

Auf die Frage, wie Gefängnisse sich gegen eine Radikalisierung der Häftlinge wappnen können, nennt Peter Neumann drei Hauptfaktoren: Die Gefängnisse müssen gut funktionieren und gut ausgestattet sein, das Personal muss geschult werden, moderate Imame müssen als Seelsorger Zugang haben. Alle drei Faktoren scheinen in Luxemburgs Gefängnissen berücksichtigt zu werden. Auf Tageblatt-Nachfrage erklärt Caroline Lieffrig, stellvertretende Direktorin der Gefängnisverwaltung, wie und seit wann sich Luxemburg dieser Herausforderung stellt. Demnach kommt seit 2016 ein Imam nach Schrassig, dies für 20 Stunden die Woche. „Der hat einen sehr guten Draht zu den Insassen“, sagt Caroline Lieffrig, „das holt bereits viel Wind aus den Segeln heraus.“

Auch die Gefängniswärter würden seit 2016 geschult werden, um zum einen Anzeichen einer Radikalisierung besser zu erkennen. Zum anderen bekäme das Personal Kurse, in denen die verschiedenen kulturellen Hintergründe der einzelnen Gefängnispopulationen erklärt werden (etwa zu Menschen aus den Westbalkan-Staaten, aus Ländern der Subsahara oder dem Maghreb). Die Kurse zur Früherkennung einer Radikalisierung werden vom Schweizer Experten und Politologen Hasni Abidi gehalten, der zweimal pro Jahr nach Luxemburg kommt. „Wir wollen, dass unser ganzes Personal so einmal diese Kurse besucht“, sagt Caroline Lieffrig. In Schrassig sitzen zurzeit 561 Häftlinge ein (als maximale Belegung gelten 597 Insassen). In der halboffenen Strafvollzugsanstalt Givenich waren gestern zum Zeitpunkt der Nachfrage 72 Inhaftierte untergebracht.