Digitale Nabelschnur – „Two Pigeons Perching on a Bench“ im Kasemattentheater

Digitale Nabelschnur – „Two Pigeons Perching on a Bench“ im Kasemattentheater

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Claire Thill inszeniert ein poetisches, experimentelles Theaterstück über das Zeitalter der totalen Überwachung und unsere Gleichgültigkeit demgegenüber. Wer schon immer mal hören wollte, wie sich zwei anthropomorphisierte Tauben über Smartphones, Aktivismus und nervige Kleinkinder beschweren, der sollte definitiv am Freitagabend ins Kasemattentheater. 

Lesen Sie zum Thema auch den Kommentar «Surveiller sans punir? Totale digitale Überwachung».

Wenn Historiker sich in ein paar Jahrhunderten mit dem frühen 21. Jahrhundert beschäftigen, werden sich alle einig sein, dass das Internet der größte Paradigmenwechsel dieser Zeit war. Jede einzelne Alltagshandlung, jede gesellschaftliche Organisation ist heute anders, als sie es noch vor 20 Jahren war. Niemand bestellt Essen, organisiert Reisen, reserviert Theaterplätze, kommuniziert mit Freunden, bezahlt Strafzettel auf die Art, wie er das noch vor 20 Jahren tat. Und das Internet ist schuld.

Das Internet ist aber auch schuld an der totalen Überwachung, die wir den Maschinen überlassen. In Foucaults Panopticon (siehe Kommentar S. 6) lauert nun ein digitales Auge, das all unsere Taten und Handlungen aufnimmt. Und der Skandal daran ist: Uns ist es egal geworden. Wie es auch Pigeon 2.0 (Catherine Elsen) in Claire Thills einstündigem Theaterstück erklärt, haben wir uns ja nichts vorzuwerfen – und signieren mit einer solchen Aussage eigentlich schon unsere Bereitschaft, unsere Taten und Handlungen überwachen zu lassen. Aber wieso eigentlich? Weil wir überzeugt sind, in einer gottlosen Welt irgendjemandem Rechenschaft zahlen zu müssen? Weil wir es faszinierend finden, mit offenen Karten gegen einen unsichtbaren, allmächtigen Gegner zu spielen? Weil wir, wie es ein Zitat während des Stückes besagt, eigentlich – aus Bequemlichkeit – immer mehr Autorität an Algorithmen und Maschinen abgeben und so kognitiv langsam absterben?
Eine der Stärken von Claire Thills Stück liegt darin, dass sie das Thema der Internetüberwachung nicht in altbackenes Theater verpackt, sondern die modernen Überwachungswerkzeuge – Laptop, Smartphones – in der Inszenierung eine zentrale Rolle spielen lässt, sodass der Zuschauer, als einer dieser automatisch herumwuselnden Staubsauger die Bühne auf- und abläuft, erst über diesen Einmarsch unbeholfen wirkender Apparate schmunzelt, dann aber darüber nachdenkt, dass wir unsere durch Technik vereinfachte Existenzen mit totaler Abhängigkeit und Überwachung bezahlen.

Digitales Auflösen

Überzeugend fällt auch die Soundkulisse aus, die aus musikalischer Untermalung sowie Sound- und Gesprächsfetzen besteht – ein Highlight ist hier das Gespräch zweier Damen, die sich in luxemburgischer Sprache über das sehr luxemburgische Problem der nicht enden wollenden Verkehrsstaus unterhalten.

Eingebettet sind all diese Überlegungen in ein Stück, dass in seinem ersten Teil aus einem Monolog besteht, welches das Innenleben einer Taube (Feyesa Wakjira) schildert, bevor sich im zweiten Teil zwei Tauben über das Überwachungszeitalter unterhalten. Im Faltblatt spricht die Regisseurin ihren Dank an all den Tauben in Luxemburg, Brüssel und London aus, die (für Klangaufnahmen) schamlos ausgenutzt wurden. Diesen versponnenen, leicht schiefen Humor findet man in diversen Gimmicks auf der Bühne, in dem Sprengen der vierten Mauer – zu Beginn des Stückes dürfen sich die Zuschauer lächerlich machen, indem sie wie Tauben in ein Smartphone gurren sollen – und in dem Text selbst.

Leider merkt man dem Stück an, dass es anlässlich des letztjährigen „Talent Lab“ in Kurzform entwickelt wurde, da die dazu geflickten Parts teilweise etwas aufgesetzt wirken, die Verknüpfung zum Hauptthema der Überwachungsgesellschaft manchmal erzwungen wirkt – die Taube als stiller Beobachter, der kommentarlos überwacht, stellt hier das Bindeglied zwischen der ersten, monologischen Hälfte und der anschließenden Begegnung dar. Dies wird aber durch die poetischen Beobachtungen und die Spielfreude der beiden tollen Hauptdarsteller wieder mehr als wettgemacht. Dass sich die beiden Figuren gen Ende der Inszenierung quasi in einem digitalen Meer auflösen, erscheint hier nur logisch und konsequent.

Das Stück läuft noch am Freitagabend im Kasemattentheater.

Surveiller sans punir? Totale digitale Überwachung