Zur Pathologie des Luxemburger Rechts- und Ordnungswesens

Zur Pathologie des Luxemburger Rechts- und Ordnungswesens
Der Fall Bonneweg: Ob der erschossene Fahrer den Polizisten in Gefahr gebracht hatte, ist immer noch unklar. Foto: Editpresse

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Die Affären wie Lausdorn und Bonneweg legen unbarmherzig die Schwächen des Luxemburger Gemeinwesens bloß: staatliche Willkür und gesellschaftliche Ohnmacht.

Von Armand Clesse, Politologe

Mitte April 2018 beschließt die Justiz Diekirch, einen Mann, der, ohne jemanden zu behelligen, einer Polizeikontrolle ausgewichen ist, ins Gefängnis zu stecken. Der beigeordnete Staatsanwalt begründet diese Entscheidung mit grotesken Beschuldigungen: «unfreiwillige Körperverletzung», «unfreiwillige Tötung» und fügt später, noch absurder, «Rebellion» hinzu, rechtfertigt das Gefängnis mit «Flucht- und Verdunklungsgefahr».

Bei der Suche nach dem elusiven Fahrer kommt es zu einem Unfall zwischen zwei Polizeiwagen. Ein Polizist stirbt, eine Polizistin wird lebensgefährlich verletzt. Einige Tage zuvor hatte in Bonneweg ein Polizist einen niederländischen Staatsbürger, der sich der Kontrolle entziehen wollte, in dessen Auto erschossen. Ob der Fahrer den Polizisten in Gefahr gebracht hatte, ist immer noch unklar.

Vorfälle wie in Lausdorn und Bonneweg werfen grundlegende Fragen auf, die an das Wesen des luxemburgischen Staates rühren und an seine ethische, rechtliche und politische Substanz. Erschreckend ist im Falle Lausdorn die Maßlosigkeit und Willkür des Vorgehens des Gerichts, die Haltlosigkeit der Vorwürfe, erschreckend beim Einsatz der Polizei die gewaltige Disproportionalität zwischen dem, was auf dem Spiel stand, und dem, was man riskierte.

Beim Fahrer in Lausdorn lag weder eine Absicht zu schaden noch Fahrlässigkeit vor und er machte sich keinerlei Rebellion schuldig, da er keinerlei Kontakt mit den Polizisten hatte. Die viszeralen, irrationalen Reaktionen von Polizei und Justiz sind unverständlich, genau wie die Vorverurteilung des Fahrers, die die Diekircher Staatsanwaltschaft in aller Öffentlichkeit vornahm.

Prokrastinationsjustiz

Die Bedenkenlosigkeit, mit der Justiz und Polizei im Falle Lausdorn einen Menschen bloßstellen, ihn in den moralischen und gesellschaftlichen Ruin treiben, ist unvereinbar mit den so viel gepriesenen gesellschaftlichen Grundwerten wie etwa der «unveräußerlichen Menschenwürde». Ein Grundübel des Ordnungswesens ist die Verflechtung, die larvierte und manchmal offene Kollision von Justiz und Polizei. Polizisten bekommen vor Gericht durchweg automatisch recht. Übrigens werden kleine triviale Angelegenheiten von der Justiz oft recht effizient behandelt; bei den «heiklen» Affären wird statt aufzuklären temporisiert, prokrastiniert, abgewiegelt.

Affären wie Lausdorn und Bonneweg legen unbarmherzig die Schwächen des Luxemburger Gemeinwesens bloß: die Indolenz der politischen Klasse, die mit Bravour eine Scheinmodernisierung der Gesellschaft vollzieht, ohne sich an die teilweise morschen Fundamente zu wagen; das Fehlen von moralischen Instanzen, die Entgleisungen monieren würden; ein politisch irrelevantes Staatsoberhaupt; von staatlicher Unterstützung wie vom Kommerz abhängige Medien; NGOs, die die delikaten Affären ausklammern, um sich nicht staatliche Sympathien zu verscherzen. Kritische Reflexion kann auch nicht vom Staatsrat kommen, einem undemokratischen Gremium ohne geistige und politische Unabhängigkeit, nicht von der Universität, die viel Geld, aber wenig Geist hat, nicht von einer blutarmen und entgeiste(r)ten Kirche, die weitgehend ihren ethischen Odem verloren hat. Fatal wirken sich die Geheimniskrämerei und der Korpsgeist in den Rängen der Polizei, aber auch der Justiz aus, ihr Bewusstsein von Immunität und Impunität, das Gefühl, über dem Gesetz zu stehen, sozusagen sakrosankt und unantastbar zu sein. So ist auch die «Inspection générale de la police» nicht viel mehr als ein Feigenblatt.

Verhängnisvoll geschlossene Reihen

Die gesellschaftliche Agenda wird, wie überall in Europa, zunehmend von teilweise unartikulierten Ängsten bestimmt – vor Terrorismus, Flüchtlingen, Fremden, dem Islam, sozialem Abstieg, vor dem Ende von Wohlstand und Sicherheit, vor Identitätsverlust, all dies inmitten wachsender spiritueller Leere und geistiger Indigenz. Das wenige, was es an liberalem Geist gegeben haben mag, wird zunehmend von einem Geist der Intoleranz und der Repression verdrängt. So wächst auch die Tendenz, Sicherheit zu schaffen, mit welchen Mitteln auch immer, sich notfalls über rechtliche Bestimmungen hinwegzusetzen. Natürlich sinkt die Hemmschwelle für den Einsatz brachialer und sogar letaler Gewalt. Man weiß, dass man die schweigende Mehrheit der Bevölkerung hinter sich hat.

Die Tendenz zum «die Reihen schließen» ist sicherlich verständlich in einem sehr kleinen Land, kann sich aber langfristig desaströs auswirken. Das historisch bedingte Gefühl der Verwundbarkeit, nepotistische Versuchungen, Residuen des alten Notabelndenkens, Anpassungsreflexe, ein gewisser Konformismus, die Angst vor dem Vorwurf der mangelnden Solidarität und der Nestbeschmutzung vermengen sich mit dem Stur-Introvertierten des Luxemburger Wesens und bilden schlechte Voraussetzungen für ein Staatsgebilde, für ein Justiz- und Polizeigefüge, das ja eigentlich einen Willen zu unbedingter Transparenz und Aufklärung sowie Entschlossenheit zu möglicherweise schmerzhaften Entscheidungen zeigen sollte.

Vertrauen ist die Voraussetzung für das ordentliche Funktionieren eines demokratischen Gemeinwesens. Der Bürger muss das Gefühl haben, dass Rechtsstreitigkeiten anhand von übergeordneten, überparteilichen Richtlinien und Kriterien entschieden werden und nicht auf der Basis von Partikularinteressen institutioneller, politischer oder materieller Natur.
Rechts- und Ordnungsinstitutionen, die selbstgefällig und sogar selbstherrlich sind, stellen eine Gefahr für die «liberale Demokratie» dar, insoweit es diese tatsächlich gibt. Eigentlich sollte jeder einigermaßen kritische und ethisch denkende Bürger mit «brennender Sorge» auf Vorkommnisse wie die in Lausdorn und Bonneweg reagieren. Das Ausbleiben jeder nennenswerten Reaktion der politischen wie der zivilen Gesellschaft ist verstörend.

Radikales Umdenken

Um der «liberalen Demokratie» eine adäquate Qualität zu bewahren, müssten die Befugnisse der Organe, die für «Ruhe und Ordnung» zuständig sind, permanent überprüft und, wo notwendig, eingehegt werden. Man sollte nicht vergessen, dass ein Kennzeichen autoritärer Staaten die große und manchmal grenzenlose Macht der Justiz- und Polizeiorgane ist.

Der Polizeibeamte hat oft im Eifer des Einsatzes oder gar des Gefechts wenig oder vielleicht überhaupt keine Zeit zum Nachdenken, doch bei einem sorgfältig ausgebildeten Beamten muss die Besonnenheit wenigstens zur zweiten Natur werden. Er sollte fähig sein, in einer angespannten Situation instinktiv und intuitiv zu erfassen, was das bestmögliche Verhalten ist. Dabei sollte er defensiv handeln, möglichst wenig Risiko eingehen, auf Aktionen verzichten, die die Gesundheit und das Leben von Menschen in Gefahr bringen könnten.

Wichtiger als materielle, strukturelle, technische Reformen wäre ein neues Ethos, ein neues Pflichtbewusstsein. Bei der Ausbildung der Polizisten müsste viel größeres Gewicht auf Zivilität gelegt werden, zusammen mit Rechtskenntnissen, Deontologie, und erst danach auf die technische Ausbildung, darunter Schusswaffengebrauch, Selbstverteidigung, aber eben auch Zurückhaltung, Deeskalation, Konfliktlösung. Wie man nicht nur in Bonneweg, sondern auch bei ähnlichen Fällen in Frankreich, Belgien und Deutschland gesehen hat, sitzt die Pistole manchmal allzu locker im Halfter.

Es muss sich das Bewusstsein durchsetzen, dass der Polizist ein Bürger in Uniform ist, der Richter ein Bürger in Robe, dass diese Beamten dem Gesetz genauso unterstellt sind wie jeder andere Bürger. In einer wirklichen Demokratie kann es keine Vorrechte, keine Privilegien geben, keinen besonderen Schutz, keine Ausnahmen, kein Außerhalb-des-Gesetzes-Stehen. Grundbedingung des Rechtsstaats ist, dass alle vor dem Gesetz gleich sind. Dies ist in Luxemburg keineswegs der Fall, allein schon aufgrund seiner Staatsform, der konstitutionellen Monarchie, die ja vom Prinzip her unvereinbar ist mit Demokratie.
Das Verständnis wie das Selbstverständnis von Institutionen wie Justiz und Polizei müsste von Werten wie Sensibilität, Rücksichtnahme, Solidarität, Einfühlungsvermögen, Empathie geprägt sein. Dies ist aber nur möglich, wenn diese Werte in der allgemeinen Gesellschaft stärker verbreitet sind und höhere Achtung genießen.

Wirkliche Reformen verlangen Mut, Klugheit, Weitsicht, Entschlossenheit, wenn nicht gar ein gewisses Maß an Selbstverleugnung und Selbstverzicht – Verzicht auf einigen psychischen Komfort, auf manche Privilegien und auf lieb gewonnene Gewohnheiten.

Fürchtegott
11. Oktober 2018 - 10.58

Exzellent! Anfügen will ich hier nur noch ein weiteres Skandalstück der luxemburger Justiz , welche bisher weiter nie kommentiert wurde: In Petingen wurde ein Mutter annähernd ein Jahr in Untersuchungshaft genommen, da ihr Kind auf mysteriöse Art und Weise verschwunden bleibt. Ohne Anklage! Ein Jahr Haft! In Rechtsstaaten kann eine Untersuchungshaft maximum 24 oder 48 Stunden verhängt werden, dann muss Anklage erhoben werden oder die Person in Freiheit entlassen werden. Nicht so in Luxemburg der Türkei, China oder Nordkorea und seit Kurzem jetzt auch wieder in Bayern! Leider muss ich in Luxemburg mit einem Pseudonym zeichnen, da man oder andere Familienmitglieder bekannterweise mit Unannehmlichkeiten zu rechnen hat, falls Kritik an Institutionen geübt wird , besonders gegenüber Poizei und Justiz.

Nico kintziger
6. Oktober 2018 - 8.19

Das faengt schon bei dem einfachen Parken eines Pkw in einer Strasse an . Was laut Gemeindeparkreglement und Code de la Route erlaubt ist ,wird von den sogenannten Ordnungshuetern als ungueltig erklaert ,Fantasie Absprachen zwischen Nachbaren stehen ueber Gesetzen und Code de la Route !! Fall Beispiel : Auto vor eigener Haustuer um 15 Uhr abgestellt . Nachbarin stellt Strassse auf der Gegenseite zu um 19 Uhr abends , ruft Polizei ! Polizei kommt und mit einem richtigen Kommandobefehl ,ich sollte meine Karre umparken ,sonst wuerde Sie abgeschleppt musste ich umparken !! Obwohl mit Zeugen richtig geparkt , was die Herren Polizisten nicht interessierte, wird das Parkreglement nach Gutduenken gedreht und bei Reklamation noch von den Vorgesetzten gedeckt !! Kein Wunder, dass in Luxemburg einiges drunter und drueber geht ,wenn keiner mehr weiss ,ob bei Problemen selbst hat man sich an alles gehalten bekommt man selbst bei den banalsten Angelegenheiten Recht oder ist die Gegenseite besser bei unseren sogenannten Ordnungshueter angesehen !!

Le républicain
5. Oktober 2018 - 13.02

Diese Analyse ist schonungslos aber richtig, es liegt so vieles im Argen in der luxemburger Justiz und bei der Polizei und das erweckt weder Vertrauen noch Unterstützung von seitens der Bürger für unseren Rechts- und Ordnungswesen......aber wie und wer soll das ändern?