Bröckelnde Einigkeit: Im EU-Parlament wird Brexit-Gipfelentscheidung sehr unterschiedlich bewertet

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Die von den EU-Staats- und Regierungschefs bei ihrem letztwöchigen Sondergipfel getroffene Entscheidung, die Austrittsfrist für Großbritannien bis zum 31. Oktober zu verlängern, stößt im Europäischen Parlament (EP) auf Kritik. In den EU-Institutionen gibt es unterschiedliche Ansichten über den Brexit.

Mittlerweile sind zwei Austrittstermine verstrichen und das Vereinigte Königreich ist weiterhin Mitglied der Europäischen Union. Ermöglicht haben dies 27 EU-Staats- und Regierungschefs, die bei ihrem Gipfeltreffen vor einer Woche der Regierung eine neuerliche, längere Frist bis zum 31. Oktober eingeräumt haben. Dabei suchte die britische Premierministerin Theresa May nur um einen Aufschub bis zum 22. Mai an, um zu vermeiden, dass sich das Land an den Europawahlen beteiligen müsse. Was nun allerdings nicht mehr zu vermeiden ist.

Der Vorsitzende der liberalen Fraktion im EP, Guy Verhofstadt, warnte gestern im EP in Straßburg vor den Konsequenzen der Entscheidung der 27. Bisher habe die Einigkeit zwischen den 27 Mitgliedstaaten und zwischen den drei Institutionen gewahrt werden können.

„Diese Einigkeit ist meiner Meinung nach gefährdet“, sagte der Belgier. Die Gipfelteilnehmer hätten May „ohne Verlängerung oder mit nur einer ganz kurzen Verlängerung“ von einigen Tagen oder Wochen nach London zurückschicken“ sollen.
Sechs Monate seien zu kurz, um den Brexit tiefgehend zu überdenken, und zu lang, um wirklich Handlungen auszulösen, meint der liberale Fraktionsvorsitzende: „Ich befürchte, die Ungewissheit wird verlängert, die Unentschlossenheit wird verlängern.“ Vor allem warnt er davor, „dass das Brexit-Durcheinander in die EU importiert wird“ und die EU-Wahlen vergiftet.

Auch die Vorsitzende der Linken-Fraktion, Gabi Zimmer, zeigte sich „überhaupt nicht einverstanden mit dem Ergebnis des letzten Gipfels“. Sie sieht den „demokratischen Vorgang der EU-Wahlen aufs Spiel gesetzt“ und befürchtet ein Durcheinander, vor allem im EP, dem nur kurzzeitig britische Abgeordnete angehören werden, die Einfluss auf Besetzungen im Parlament sowie auf die Zusammensetzung von Fraktionen nehmen können, welche sich nach dem Austritt wieder ändern würden. Zimmer kam zum Schluss, dass die 27 den Austritt entweder gleich hätten fordern sollen „oder sie hätten fünf Jahre vorschlagen sollen, also eine ganze Legislaturperiode“ für die Verlängerung.

Unter den Mitgliedstaaten gab es ebenfalls unterschiedliche Ansichten über die Verlängerung der Austrittsfrist. Frankreich etwa drängte auf eine kürzere Frist, während andere Staaten für eine längere plädierten. Dabei geht es vor allem darum, einen Austritt ohne Abkommen, einen No-Deal-Brexit zu verhindern.

EU-Ratspräsident Donald Tusk strebt eine möglichst lange Verlängerung an. Er hat weiterhin den „Traum“, dass sich der Brexit doch noch verhindern lässt und Großbritannien das Rücktrittsgesuch nach einer längeren Periode des Nachdenkens schließlich zurückziehen werde, wie er gestern während der Debatte im EP noch einmal zu erkennen gab.

„Das ist nicht meine Arbeitshypothese“, stellte hingegen EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker klar. Ebenso wenig geht der Luxemburger davon aus, dass es im Herbst zu einer nochmaligen Verlängerung über den 31. Oktober hinaus kommen werde. Juncker machte jedoch deutlich, dass die Briten an den Europawahlen teilnehmen müssen, wenn sie bis zum 23. Mai das Austrittsabkommen noch nicht ratifiziert haben. Würden keine Wahlen abgehalten, scheide das Vereinigte Königreich am 31. Mai automatisch aus der EU aus. Das sehe die Rechtslage vor, so der Kommissionspräsident.

In den beiden größten Fraktionen, der EVP und der Fraktion Sozialdemokraten, wiederum überwiegt der Wunsch nach einem neuerlichen Referendum in Großbritannien über den Verbleib in der EU. Wenn die Politiker keine Lösung haben, soll dem Volk wieder eine Stimme gegeben werden, fordert der EVP-Sprecher Esteban Gonzalez Pons.

Auch der Vorsitzende der Sozialdemokraten im EP, Udo Bullmann, will, dass die Wähler noch einmal befragt werden. Der Deutsche erwartet mit den Europawahlen ohnehin eine neue Diskussion über den EU-Austritt in Großbritannien. „Es wird der Anfang vom Ende des Brexits sein“, prophezeit er.