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Alle reden über sie, jetzt ergreift sie selbst das Wort: Das „Tageblatt“-Interview mit der Irischen Grenze

Alle reden über sie, jetzt ergreift sie selbst das Wort: Das „Tageblatt“-Interview mit der Irischen Grenze

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Die irische Grenze ist der Elefant in den Brexit- Verhandlungen. Das sagt sie auch selber so. Oder besser: Sie schreibt das auf ihrem Twitter-Account „The Irish Border“. Binnen weniger Monate hat sich „The Irish Border“ eine stetig wachsende Fangemeinschaft herbeigetwittert. Mehr als 40.000 sind es schon, die dem Account folgen, der es mit feiner Ironie und spitzer Poesie versteht, die Probleme der Menschen, die direkt von einer harten Grenze betroffen wären, warmherzig auf den Punkt zu bringen.

Tageblatt: Werte Irische Grenze, immer wenn vom Brexit gesprochen wird, werden Sie als das am schwierigsten zu lösende Problem genannt, als sogenannter Knackpunkt der Verhandlungen. Was macht das auf Dauer mit einem, wie fühlen Sie sich dabei?

Irische Grenze: Ein bisschen peinlich ist mir das schon. Ich wollte da ja nie hineingezogen werden. Eigentlich hatte ich mich schon zurückgezogen. Die vergangenen 20 Jahre habe ich die Schafe beim Spielen beobachtet, den Wolken beim Vorüberziehen zugeschaut und alle einfach vorbeigelassen, ohne dass sie überhaupt daran gedacht haben, dass es mich gibt.

Aber nun drängt die Zeit und es ist keine wirkliche Lösung in Sicht, um Sie so offen zu lassen. Was würden Sie vorschlagen? Wie würden Sie am liebsten behandelt?

Ich will einfach so bleiben, wie ich jetzt bin – unsichtbar, aber doch da, einfach unauffällig. Ich will verfassungsmäßig existieren, aber physisch verschwinden. Das ist ein schmaler Grat, und der kann nur gemeistert werden mit harter Arbeit und intelligenten Politikern. Aber zerstört kann er werden von Trotteln und Populisten, und genau das passiert gerade. Ich würde gerne behandelt werden wie der alte Onkel, der nach einem reichhaltigen Mahl in der Ecke des Zimmers eingenickt ist und vor sich hin schnarcht, und dessen Familie ihn so hinnimmt, wie er ist, und ihn niemals aufwecken würde.

Na gut, aber jetzt zu den harten Fakten. Für Sie ist zurzeit trotzdem keine Lösung in Sicht. Mal ehrlich, was denken Sie passiert mit Ihnen am 29. März kommenden Jahres, dem D-Day des Brexit?

Ich habe keinen blassen Schimmer. Und ist es nicht genau das, was so fürchterlich ist? Es sind nur noch sechs Monate und keiner weiß, was passieren wird! Stellen Sie sich mal vor, wie sehr das jeden aufwühlt, der hier wohnt – nichts zu wissen, das macht am meisten Angst. Jeder stellt dauernd seine Vermutungen an, was passieren könnte, und das wechselt jeden Tag, es wiegt hin und her wie das hohe Gras hier im Wind. Es gibt Tage, da glaube ich an eine angenehme weiche Grenze und dass Miss May ihren Weg schon finden wird und das Vereinigte Königreich in einen Brexit leitet, der nicht wirklich ein EU-Austritt ist. Und an anderen Tagen denke ich nur noch, es wird wie das Ende der Welt für mich sein.

Und Ihrer Meinung nach, wie könnten Sie offen bleiben?

Wenn das Vereinigte Königreich einfach in der Europäischen Union bleibt. UK könnte die EU auch verlassen, aber einem Backstop zustimmen (eine Art Versicherung, dass die Grenze offen bleibt, Anm.). Irgendjemand könnte einen unsichtbaren Grenzschutzroboter erfinden, einen mit einem angenehmen Temperament, der Fähigkeit zur charmanten Plauderei und einem überaktiven Twitter-Account. Sie könnten mich natürlich auch einfach behalten, ich bin ja schon da, und viel billiger wäre das auch.

Sie wurden 1921 geboren und haben schon viele harte Zeiten hinter sich, Zeiten der Gewalt und der Unruhen. Welche waren Ihre schlimmsten Erinnerungen? Und wie ist das Leben seit dem Karfreitagsabkommen aus dem Jahr 1998, das den mörderischen Kämpfen in Nordirland ein Ende bereitete?

Meine schlimmsten Erinnerungen? So schlimm wie die schlimmsten Erinnerungen, die man nur haben kann: Teilung, Elend, Schmerz, Mord, Trauer, Armut, Hoffnungslosigkeit. Aus der Zeit vor dem Karfreitagsabkommen sind mir die Zollhäuser noch in Erinnerung – obwohl die Brexiteers diese wohl vergessen haben. Das Leben seitdem wurde immer rosiger. Ich habe mich der Grenzposten entledigt und das Leben genossen – die Blumen fingen an zu wachsen, die Vögel singen, die Menschen haben wieder begonnen, miteinander zu sprechen. Seit 1998 ist es wie ein Dauerfrühling. Na gut, das trifft es nicht so ganz, aber es geht, wenn auch langsam, ständig bergauf.

Sie sind ungefähr 500 Kilometer lang und kennen es aus der Vergangenheit – was ist also wirklich das Problem dabei, wenn hie und da ein bisschen, sagen wir, Kontroll-Infrastruktur auf Sie gestellt wird? Ist das wirklich so ein großes Ding?

Ja, es ist ein großes Ding! Es ist gleichzeitig wirklich und symbolbehaftet. Ich sag’s Ihnen mal so: Das Karfreitagsabkommen war eine Anerkennung des Nationalismus der Nordiren. Und das Verschwinden der physischen Grenze geht damit einher, dass die Identitäten der irischen Nationalisten und der protestantischen Unionisten beide anerkannt und gleich hoch geschätzt werden. Wenn jetzt wieder eine Grenze eingerichtet wird, egal ob das jetzt eine Mini-Grenze ist oder eine große Macho-Grenze, wird das diese ebenbürtige Wertschätzung verringern.

Haben jene, die dauernd über Sie reden, sich überhaupt einmal bei Ihnen erkundet, wie es Ihnen geht? Ich meine, haben Juncker, Tusk oder Barnier auf der einen Seite und May, Johnson oder Davis auf der anderen Seite Sie jemals besucht und eine Tasse Tee mit Ihnen getrunken? Oder ein Pint?

Die nehmen einfach an, zu wissen, wie es mir geht. Deswegen habe ich ja mit meinem Twitter-Account begonnen. Mister Barnier war ein paarmal hier, der ist sehr nett. David Davis kam auch einmal. Er blieb nur ein paar Minuten. Er stand da, Hände in den Taschen, und blickte in meinen Abgrund. Was er sah, hat ihn ziemlich erschrocken. Und er ist kurz später ja tatsächlich von seinem Ministerposten zurückgetreten.

Sind Sie nicht auch ein bisschen enttäuscht von der Labour Party und ihrem Chef Jeremy Corbyn? Von der Seite gab es zuletzt auch keine wirklich klaren Aussagen …

Ein bisschen?! Er ist ein Brexiteer. Wenn es darum geht, wie ich offen gehalten werden soll, schwindelt er genauso wie ein Tory-Brexiteer. Er hat keine brauchbare Idee, wie das passieren soll. Demnach: Ja, ich bin enttäuscht. Das völlige Fehlen irgendeiner Strategie kotzt mich sogar richtig an.

Am Tag der Brexit-Abstimmung, haben Sie den Ärger da schon kommen sehen?

Ja. Und davor auch schon. Aber es wollte ja niemand auf mich hören.

Wie sehen Sie sich in zehn Jahren?

Voraussichtlich in einem unterirdischen Museum, das über meine gesamte Länge verläuft.

Würden Sie unseren Lesern empfehlen, Sie einmal besuchen zu kommen?

Natürlich, ich bin wunderschön! Die Menschen, die hier um mich herum leben, sind freundlich, lustig und einzigartig. Das Essen ist gut, und die Schafe sind unterhaltsam. Und man kann mit meiner Freundin Jean plaudern, sie ist eine Philosophin. Kommt einfach bei mir vorbei! Wenn ihr dann wieder heimkehrt, seid ihr aufgeklärter, erfrischter und einfach ein besserer Mensch.