50 Jahre und zwei Katastrophen – „Mouvement écologique“-Präsidentin Blanche Weber im Interview

50 Jahre und zwei Katastrophen – „Mouvement écologique“-Präsidentin Blanche Weber im Interview

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Das „Mouvement écologique“ feiert am Mittwoch mit vielen seiner Weggefährten sein 50. Jubiläum. Für Präsidentin Blanche Weber muss noch viel getan werden. Auch von der Politik. 

Tageblatt: Das „Mouvement écologique“ wird 50. Fühlen Sie sich als Organisation alt?

Blanche Weber: Nein, im Gegenteil! Wir sind immer noch eine sehr lebendige und kreative Organisation. Mit unserer Basis und unseren ehrenamtlich Engagierten sind wir unserem Motto „Lieweg, kritesch, engagéiert“ treu geblieben und pflegen zudem eine sehr angeregte Diskussionskultur.

Ist das nicht ungewöhnlich für eine Institution wie das „Mouvement écologique“? Immerhin ist es längst keine Graswurzelbewegung mehr.

Das sehen wir ganz anders. Wir haben ein sehr kleines hauptamtliches Team. 90 Prozent der Arbeit bei uns wird von ehrenamtlich engagierten Mitgliedern geleistet – sei es national oder regional.

Trotzdem pflegen Sie einen guten Draht zur Politik.

Beides ist ja kein Widerspruch und die Aussage ist mir zu pauschal. Natürlich versuchen wir uns bei wichtigen Fragen, inhaltlich einzubringen. Wir suchen den Dialog mit der Politik und sie sucht ihn teilweise mit uns. Wir erwarten aber tatsächlich, dass die Politik in dieser Legislaturperiode wesentlich stärker grundsätzliche Weichen im Sinne der nachhaltigen Entwicklung stellen wird. Wir haben den Eindruck, als ob unsere Themen in der Gesellschaft einen hohen Stellenwert haben und sich dies in den Parteien und beim Staat nicht immer in diesem Ausmaß widerspiegelt.

Warum vermuten Sie, dass sich dies in dieser Legislaturperiode ändern wird?

Wir hoffen darauf, dass die Parteien die Zeichen der Zeit erkennen werden. Den Klimawandel müssen wir niemandem mehr erklären. Eine zweite Katastrophe, die mindestens so schlimm, wenn nicht sogar schlimmer ist, ist die Zerstörung unserer Biodiversität. Wir sind dabei, unsere Lebensgrundlagen zu zerstören. Wenn die Politik ihrer Verantwortung gerecht werden will, dann muss sie hier weitaus konsequenter vorgehen. Das ist doch die Essenz des politischen Handelns: dafür zu sorgen, dass wir den zukünftigen Generationen die Lebensgrundlagen erhalten.

Ist es nicht paradox, wenn Sie sagen, den Klimawandel müsse man heute niemandem mehr erklären, und trotzdem verändert sich kaum etwas?

Ja, ist es! Zum einen gewöhnen wir Menschen, und entsprechend auch Politiker, uns zu sehr an Situationen. Haben wir uns wirklich mit den dramatischen Bildern der Überschwemmungen im Süden der Welt abgefunden? Vor allem aber ist langfristiges Denken noch längst nicht im erforderlichen Ausmaß in unserer Gesellschaft angekommen, der Mensch hat die Tendenz, zu sehr kurzfristig Entscheidungen zu treffen.

Als „Mouvement écologique“ haben wir in den vergangenen 50 Jahren viel erreicht, auf das wir stolz sein können. Wir müssen aber feststellen, dass die eigentlichen grundsätzlichen Entwicklungen noch immer in die falsche Richtung gehen … Wir müssen den Druck erhöhen, damit die Politik langfristiger denkt. Dabei geht es auch um Machtverhältnisse.

Welche Machtverhältnisse und wie müssten sich die Machtverhältnisse verändern?

Mit der Machtfrage ist die Frage der Verteilungsgerechtigkeit eng verknüpft. Klimaschutz und Biodiversitätsschutz bedeuten, dass wir ein anderes Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell brauchen, ein nachhaltigeres und gerechteres. In der Wirtschaft und der Gesellschaft gibt es allerdings eine gewisse Trägheit, was diesbezügliche so dringend notwendige Reformen angeht. Allerdings: Egal wie man zur Wachstumsfrage steht, es kann nicht sein, dass unser Sozialsystem weiterhin in diesem Ausmaß davon abhängig ist.

Sind Ihre Prioritäten heute andere als vor 50 Jahren?

Beim „Mouvement“ lag bei der Gründung der Fokus auf der Natur. Erste Veranstaltungen waren z.B. Vogelbeobachtungen und Heckenpflanzaktionen. Über das Thema Atomkraft sind wir zu einer gesellschaftspolitischen Bewegung geworden. Risikogesellschaft und Überwachungsstaat wurden zum Thema.

Die Themen vom „guten Leben“ und „dem Wohlstand“ sind schon relativ früh aufgetaucht und ziehen sich wie ein roter Faden durch die 50-jährige Geschichte des „Mouvement“.

Tatsächlich hat sich also sehr wenig geändert in den 50 Jahren?

Im Gegenteil. Es hat sich sehr viel verändert. Wir kannten in den letzten 50 Jahren ein unwahrscheinliches Wachstum auf allen Ebenen: mehr Konsum, mehr Menschen, die immer mobiler sein möchten. Die Herausforderungen haben entsprechend auch massiv zugenommen.

Gleichzeitig hat sich sicher aber auch die Mentalität der Menschen verändert, die Akzeptanz für die nachhaltige Entwicklung hat erheblich zugenommen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Heute dreht sich nicht mehr alles um den Autoverkehr. Stattdessen planen wir den öffentlichen Transport.

Etwas böse zusammengefasst also: Wenn es das „Mouvement“ nicht gegeben hätte, wäre heute alles noch schlimmer?

Ja.

Wer ist in der Verantwortung, etwas zu verändern? Politik oder Verbraucher?

Wir sind davon überzeugt, dass es die Aufgabe der Politik ist, einen Rahmen zu setzen, damit sich sowohl Industrie als auch Verbraucher ökologisch verhalten. Wenn wir darauf warten, dass sich jeder Einzelne bei jeder Lebensentscheidung fragt, ob er die richtige Entscheidung trifft, dann kommen wir nicht weiter. Nehmen wir das Fliegen. Jeder weiß, dass das Fliegen extrem klimaschädlich ist, viele machen es trotzdem, da sie denken: „Op mech kënnt et net un.“ Wenn die Politik allerdings dafür sorgt, dass das Fliegen so billig ist wie noch nie, dann muss man sich nicht wundern, wenn die Verbraucher fliegen.

Die Menschen sind grundsätzlich bereit für eine Veränderung, allerdings nur wenn sie kollektiv und gerecht geschieht. Wenn ein Verbraucher glaubt, er sei der Einzige, der zurückstecken muss, dann ändert er sein Verhalten nicht. Die Politik muss den Rahmen schaffen und die Menschen müssen das verstärkt einklagen. Zahlreiche Bürger zeigen in Umfragen mehr Umweltbewusstsein, eine Einstellung, auf der die Politik aufbauen kann.

Was muss der Staat konkret machen?

Vieles! Den Biolandbau fördern, eine nachhaltige Steuerreform durchführen, den öffentlichen Transport massiv ausbauen. Wir brauchen ein Pestizidverbot. Wir brauchen einen besseren Schutz der Nutztiere. Die meisten Menschen wollen artgerechte Tierhaltung. Wenn wir die Verantwortung auf die Bauern abschieben, wird nichts passieren – sie sind auch in dem System gefangen.

Macht man so das Fliegen und Fleisch nicht zu Luxusgütern und führt so zu einer Segregation der Gesellschaft?

Es kann nicht sein, dass soziale Argumente dazu dienen, bei der Umwelt Abstriche zu machen. Wir brauchen grundsätzlich mehr Verteilungsgerechtigkeit. Wir müssen aber auch unsere Lebensgrundlagen erhalten. Beide Interessen dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Im Gegenteil. Denn sie gehen auch Hand in Hand. Menschen mit weniger Geld wohnen z.B. oft an viel befahrenen Straßen. Menschen mit weniger Geld wohnen häufig in weniger gut isolierten Häusern. Menschen mit weniger Geld können sich oft weniger hochwertige Lebensmittel leisten. Sie leben weiter weg von öffentlichen Verkehrsmitteln. Menschen mit weniger Geld leiden am meisten unter ökologischen Problemen. Sogar in Luxemburg – auch wenn das Problem in anderen Ländern ausgeprägter ist.

Soziales und Umwelt ist also sehr stark verbunden?

Genau. Auch wenn die Sozialpolitik gefordert ist, gerechtere Verhältnisse zu schaffen. Ökologie muss ebenfalls einen sozialen Blickwinkel haben. Wir sind z.B. für eine Erhöhung der Energiepreise. Gleichzeitig muss allerdings versucht werden, das sozial auszugleichen, damit es nicht zu einer reinen Einnahmequelle des Staates wird. Es muss untersucht werden, ob ein Lenkungseffekt zu erwarten ist. Werden Menschen mit weniger Geld entlastet? In Frankreich hat man dies nicht genau genug untersucht. Wir sind darauf gespannt, wie dies in Luxemburg umgesetzt wird.