39 Kandidaten kämpfen am Sonntag ums Präsidentenamt in der Ukraine

39 Kandidaten kämpfen am Sonntag ums Präsidentenamt in der Ukraine
V.l.: der ukrainische Präsident Petro Poroschenko, die ehemalige Regierungschefin Julia Timoschenko und Politneuling Wolodymyr Selenski, der in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen die Nase vorn haben dürfte. Fotos: AFP

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„Wir gehen unseren Weg: Armee – Sprache – Glaube!“, heißt es seit Monaten auf riesigen Plakaten in der ganzen Ukraine. Dazu das Konterfei des aktuellen Staatspräsidenten Petro Poroschenko, desjenigen Politikers, der die Ukraine seit 2014 gegen Russland geeint hat.

Von unserem Korrespondenten Paul Flückiger, Warschau

Doch der Glaube an eine Wiederwahl des „Schokoladekönigs“ schwindet von Tag zu Tag. Schuld daran ist vor allem der Komiker Wolodymyr Selenski, der als völliger Außenseiter in der Silvesternacht die gesamte Politlandschaft der Ukraine aufgemischt hat. Der beliebte Fernsehstar hatte damals verkündet, er wolle nun Politiker werden und ernsthaft um das Präsidentenamt der Ukraine kämpfen.

Bisher hatte er nur mit einer Slapstick-Figur eines Lehrers, der unversehens Staatspräsident wird und dort gegen die Windmühlen der Vetternwirtschaft kämpft, von sich reden gemacht. Gespielt hatte Selenski diese Figur für den beliebten Fernsehkanal „1 + 1“ des Oligarchen Ihor Kolomojskij.

Bereits im Januar hatte sich der 41-jährige Komiker in den Umfragen vor die beiden bisherigen Spitzenkandidaten Petro Poroschenko und Julia Timoschenko, eine der Anführerinnen der prowestlichen „Orangen Revolution“ von 2004, geschoben. Er zog dabei vor allem die Stimmen der jungen Unzufriedenen an, jenen Millionen von Ukrainern, die sich vom Maidan, der „Revolution der Würde“, wie der pro-europäische Aufstand von November 2013 bis Februar 2014 heute genannt wird, ein Ende der grassierenden Korruption und eine Gesundung der Politik versprochen hatten.

Stattdessen mussten sie in den letzten fünf Jahren mitansehen, dass weiterhin ein halbes Dutzend Oligarchen über die Geschicke des Landes entscheiden, während gleichzeitig die Opferzahlen des Krieges im Donbass steigen.

Selenski weit vor Poroschenko

In den letzten Umfragen kann Selenski beim ersten Wahlgang am Sonntag nun auf rund 25 Prozent der Stimmen hoffen, Poroschenko und Timoschenko dagegen nur noch auf jeweils rund 15 Prozent.

Drei weitere Kandidaten kommen auf je etwa 5 Prozent. Die restlichen 33 zeigen vor allem, welch große Auswahl an weiteren Politikern, die je umgerechnet fast 100.000 Euro für ihre Kandidatur aufwenden mussten, die Bürger des nunmehr ärmsten Landes in Europa haben. Optimistisch stimmt dabei immerhin, dass der in den Umfragen erfolgreichste Ultra-Nationalist gerade einmal auf etwa 2 Prozent kommt.

Wofür der Komiker Selenski steht, ist kaum bekannt. Das Programm seiner erst vor Kurzem gegründeten Partei „Dienst am Volk“ umfasst gerade einmal vier Seiten.
Wie alle Populisten wettert er gegen die Eliten und verspricht, dass alles besser wird. Obwohl er dies immer wieder abstreitet, ist eine Verbindung mit dem Besitzer von TV „1 + 1“ schwer von der Hand zu weisen.

Wie jener betont Selenski seine Herkunft aus einfachen Verhältnissen, auch spielt er immer wieder mit seinen jüdischen Wurzeln. Seine berühmteste TV-Show benannte Selenski nach dem trostlosen Sowjet-Wohnblockquartier „Kwartir-95“ in seiner Heimatstadt Kriwij Rih, einer Industriestadt zwischen Kiew und Dnipro (früher: Dnipropetrowsk), der Heimatstadt seines TV-Chefs Kolomojski, der übrigens zwischen dort und Genf hin und her pendelt.

Der Präsident hat nicht geliefert

Kolomojski hatte sich zwar im Frühling 2014 schnell und klar auf die Seite der Ukraine gestellt, als pro-russische Separatisten auch in Dniepropetrowsk ihr Unwesen trieben und die Oblast an „Neurussland“ anschließen wollten. Belohnt wurde er dafür von Poroschenko mit dem Amt des Gouverneurs, des wichtigen Präsidentenvertreters in dem Gebiet. Doch bald kreuzten sich Geschäfts- und Machtinteressen der beiden mächtigen Oligarchen und Kolomojski wurde wieder entlassen.

Seitdem sinnt jener auf Rache, zumal die präsidententreue Regierung ihn durch die Verstaatlichung der „Privatbank“ seines Kundenbankenimperiums beraubt hat.
Auf eine ähnliche Klientel wie Selenski zielt im Wahlkampf Julia Timoschenko ab, die ewige Widersacherin aller Staatspräsidenten. Die einstige „Gasprinzessin“ rekrutiert ihre Anhängerschaft vor allem unter den Rentnern und in der Zentralukraine. Timoschenko werden im Grunde nicht schlechte Beziehungen zu Putin nachgesagt. Immerhin hatte sie mit dem Russen 2006 als Premierministerin einen für die Ukraine durchaus unvorteilhaften Gasliefervertrag ausgehandelt.

Dass die Ukraine heute energiepolitisch von Russland weitgehend unabhängig ist, ist hingegen ein Verdienst des Amtsinhabers Poroschenko. Das meiste Erdgas bezieht die Ukraine seit der Maidan-Revolution aus der EU, auch wenn es sich dabei de facto um russisches Gas handeln mag. Im Zuge des EU-Assoziierungsabkommens, das der im Februar 2014 nach Russland geflohene Staatspräsident Wiktor Janukowitsch sistiert hatte, hat sich die Wirtschaft der Ukraine auf die EU umorientiert.

Russland spielt wirtschaftlich eine immer geringere Rolle. Vor Kurzem wurde sogar das Ziel des EU- und NATO-Beitritts in die Ukrainische Verfassung eingeschrieben. Auch dies ist ein Verdienst Poroschenkos und seiner Regierungsmannschaft.

Doch von Ideen und Wünschen alleine kann der Ukrainer nicht leben. Deshalb werden Poroschenko nun der Reformstau, Oligarchisierung und mangelnder Kampf gegen die Korruption und vor allem die Preiserhöhungen vorgeworfen. So groß ist inzwischen die Wut der Enttäuschten, dass nicht einmal klar ist, ob es Proschenko am Sonntag in die Stichwahl gegen den Komiker Selenski schafft.